Der Seelenleser
runterfuhr, Arbeit und Schatten suchte und, um Elise zu zitieren, von beidem nur wenig fand. Ihre Mutter schlief mit den Ortsansässigen, um etwas Geld dazuzuverdienen, und ihr Vater schlief mit Elise einfach so.
Als sie dreizehn war, hatten sie ihr Lager in einem Wäldchen außerhalb einer kleinen Stadt aufgeschlagen. An einem heißen Nachmittag trampte sie in die Stadt und fragte sich bis zum Büro des Sheriffs durch. Sie zeigte ihren Vater wegen sexueller Belästigung von ihr und ihren Schwestern an, die damals gerade neun und sieben Jahre alt waren.
Der Vater ging ins Gefängnis. Die Mädchen wurden zwischen Kinderschutzdiensten und Pflegestellen hin- und hergeschoben. Die Worte Heim oder Familie will sie nicht benutzen. Schließlich schloss sie die Highschool in Modesto ab und arbeitete als Kellnerin, während sie an der Universität in Berkeley studierte. Sie hatte ein Blind Date mit einem anderen Studenten, der Jura studierte. Sie heiratete ihn direkt nach seinem Abschluss, und als er in San Francisco bei einer Kanzlei einen Vertrag bekam, zogen sie hierher.«
Vera unterbrach ihren Redefluss. » Ich weiß nicht, ob Sie das alles wissen wollen.«
» Bislang machen Sie Ihre Sache gut«, sagte er.
Sie nickte.
» Elise fand sich plötzlich in einer neuen Welt wieder, und die unterschied sich gewaltig von der, aus der sie gekommen war. Es gab eine gewisse Hackordnung innerhalb der Rechtsanwälte und ihren Ehefrauen, es gab Firmenpartys, schicke Kleidung, Netzwerke. Auf dieses Spiel verstand sie sich instinktiv und war von Anfang an richtig gut darin. Ihre Schönheit war nun ein Wertgegenstand, der mehr bewirkte als nur die großen Trinkgelder: Es war die Trittleiter für die Karriere ihres Mannes. Doch dann begann ihr Mann, schwere Kopfschmerzen zu bekommen. Sein Augenlicht verschlechterte sich. Gehirntumor von der schlimmsten Sorte. Nach vier Monaten war er tot.
Elise war verzweifelt. Nicht nur, weil sie ihn verloren hatte. Sie hatte schreckliche Angst davor, in ihr altes Leben zurückzufallen. Diesen Gedanken konnte sie nicht ertragen. Als daher ein älterer Kanzleipartner, der bereits dreifach geschieden war, ihr galant Trost und Rat anbot, spielte sie mit. Sieben Monate später waren sie verheiratet. Es war ein karger Akt von Käuflichkeit von ihrer Seite aus: ihr Körper gegen ihre finanzielle Sicherheit. Das ist zwar ein altbekannter und nicht selten vorkommender Handel, doch damit konnte sie sich nicht trösten. Sofort begann dieser Gedanke sie zu quälen. Sie war erst siebenundzwanzig.
Acht Monate später waren sie wieder geschieden. Und diesmal war es bösartig. Er drohte, ihre ganze Vergangenheit an die Öffentlichkeit zu bringen, den die Kinder belästigenden Vater, die sich prostituierende Mutter. Sie gab auf und ging, ohne irgendetwas zu bekommen.«
Vera hielt inne, fuhr gedankenverloren mit den Fingerspitzen über den Rand ihrer Untertasse und erzählte dann weiter.
» Doch inzwischen war sie in diesen juristischen Kreisen gut bekannt, die ihr ein paar Jahre früher noch so fremd gewesen waren. Es gab viel Sympathie für sie, und sie hatte längst gelernt, wie sie damit umgehen musste.
Und dann kam Jeffrey Safran Currin. Sie gingen ungefähr ein Jahr lang miteinander aus. Jetzt sind sie vier Jahre verheiratet.«
» Und seit zwei Jahren ist sie bei Ihnen in Behandlung?«
» Das ist richtig.«
» Hat sie vorher schon einmal eine Psychoanalyse gemacht?«
» Nein, aber sie wusste, was sie erwarten würde. Als sie die Frau von Jeffrey Safran Currin wurde, wechselte sie in ein komplett neues Sonnensystem. Die Frauen, denen sie in diesen Kreisen begegnete, waren allesamt mit Psychoanalyse vertraut, und sobald sie eingestanden hatte, dass sie Hilfe benötigte, bekam sie viele Ratschläge.«
» Irgendjemand hat ihr empfohlen, zu Ihnen zu gehen?«
» Ja.«
» Und diese dritte Heirat mit Currin?«, fragte Fane. » Steckte da die gleiche Motivation dahinter wie bei der zweiten?«
» Nicht ganz. Sie ließ sich von ihm romantisch umschwärmen. Falls sie keine Liebe verspürte, konnte sie sich immer noch in die Romantik retten.«
Die Espressomaschine hinter der Bar gab ein lautes Zischen und Gurgeln von sich, und aus dem Nebenraum ertönte brüllendes Lachen, das aber schnell wieder abebbte.
» Hat sie über andere, neue Themen, andere Sorgen geredet«, fragte Fane, » seit die Affäre begonnen hat?«
Vera neigte den Kopf und zog die Augenbrauen hoch.
» Ich würde nicht sagen, dass ihre
Weitere Kostenlose Bücher