Der Seelenleser
begann ihr Fuß wieder zu wippen, und es brodelte wieder aus ihr heraus.
» Und dann kippt er einfach um. Wissen Sie, wie total erschöpft, als hätte er sich über alle Maßen angestrengt.« Sie schüttelte den Kopf, und ihre schwarzen Augen blickten zu Vera. » Oh verdammt, das macht mich einfach wütend.«
Lore Cha war eine umwerfend schöne Frau aus einer chinesischen Mittelklasse-Familie, die bereits in der fünften Generation in Amerika lebte. Sie hatte einen Master in internationaler Politik, den Körper eines Laufsteg-Models, einen reichen Ehemann und eine völlig verkorkste Psyche. Auch wenn sie für den Rest ihres Lebens in der Psychoanalyse bliebe, würde das nicht ausreichen.
Sie griff nach einem Glas Wasser, das auf dem Beistelltisch stand, nahm einen Schluck und stellte es zurück.
Sie erzählte Vera, dass sie Kreys Brieftasche durchsucht hatte, dass er aufgewacht war und sie dabei erwischt hatte, oder zumindest beinahe, dass sie sich schnell angezogen hatte und dann gegangen war.
» Am nächsten Tag habe ich im Internet nach seinem Namen gesucht«, sagte Lore. » Ich habe zwar keine Telefonnummer gefunden. Aber dafür seine Adresse. Die war in irgendeiner der vielen Schluchten im Mill Valley. Ich konnte daraus nicht viel ableiten, aber ich musste es wissen. Einen Tag lang habe ich gegrübelt, und gestern bin ich dann raus nach Marin County gefahren, um es mir anzuschauen.«
Sie hielt inne und schüttelte langsam den Kopf, ihren Blick auf Vera gerichtet.
» Ich bin in die Schluchten hineingefahren«, sagte sie. » Ein paarmal falsch abgebogen. Ich hab mich gegruselt dort, allein unter den riesigen Redwood-Bäumen. Dann hatte ich es gefunden.« Wieder hielt sie wütend inne, dann nickte sie, wie zur Bestätigung. » Dann hatte ich es gefunden. Ich saß in meinem Auto am Straßenrand und habe mich gefragt, wie zum Teufel ich herausfinden sollte, ob das wirklich sein Haus war. Es sah nicht nach ihm aus. So ein vorstädtisches Ding. Das passte gar nicht zu ihm.«
Lore musste man heute nicht bitten zu erzählen. Es sprudelte nur so aus ihr heraus.
» Ich bin dann zurück in die Stadt gefahren und habe einen Immobilienmakler gesucht. Dort habe ich gesagt, dass ich nach einem Stück Land, nach einem speziellen Haus suche, das ich vielleicht kaufen möchte. Die haben ihre Karten herausgeholt, und wir haben alle öffentlich zugänglichen Behördendaten überprüft. Das Haus gehört Philip R. Krey.
Ich fuhr dann zurück zum Haus und klopfte an der Tür. Eine Frau machte mir auf, vielleicht fünfundfünfzig Jahre alt. Ich sagte, dass ich zu Philip Krey möchte, und sie bedachte mich mit einem überraschten, seltsamen Blick. Sie sagte, dass er auf Reisen sei. Er sei schon seit sechs Monaten außer Landes und werde erst in einem Jahr zurückerwartet.
Ich fragte sie, wer sie denn sei. Sie sagte: › Jenny Cox‹. Ich fragte sie, wie lange sie Krey schon kennen würde. Und sie antwortete, dass sie ihn eigentlich gar nicht kannte. Sie hatte sich nur auf eine Anzeige in der Zeitung beworben, um in dieser Zeit auf das Haus aufzupassen. Und dann wurde sie richtig zickig und sagte gar nichts mehr.«
Jetzt schien sich Lore wieder etwas beruhigt zu haben. Das Wippen mit dem Fuß hatte aufgehört.
» Seitdem«, sagte sie mit einer weicheren Stimme, » habe ich alles getan, um die Identität dieses Mannes festzustellen, aber Philip R. Krey existiert gar nicht. Also frage ich mich, mit wem zum Teufel ich jetzt eigentlich eine Affäre habe? Und warum tut er das? Wie kommt es, dass er so viel über mich weiß? Und wozu weiß er so viel über mich? Was steckt dahinter? Der Sex? Ist das alles? Aber er muss doch nicht so… gespenstisch sein, nur um an den Sex zu kommen. Ich will damit sagen, dass ich verstehen kann, wenn er diskret sein will, aber zum Teufel, man kann es auch übertreiben.«
Vera hatte Lores Redefluss mit wachsender Anspannung zugehört. Was würde Lore mit ihren Entdeckungen machen? Was wollte sie gegen den Mann unternehmen, der nicht Krey war?
» Die Sache mit seiner Intuition«, sagte Lore jetzt, » hat einen Punkt erreicht, wo, wissen Sie, es nur noch erschreckend ist. Entsetzlich. Er sollte nicht in der Lage sein, sich in solche Dinge einzufühlen. Er sollte, verdammt noch mal, nicht in der Lage sein, sich meinen Gedanken so sehr zu nähern.«
Lores Stimme zitterte, und das schien sie selbst zu überraschen. Sie blinzelte wie wild, um mit aller Kraft ein Weinen zu unterdrücken, schnappte sich
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