Der Seelenleser
Strumpfhose hochzuziehen, fing er an zu reden.
» Was ist denn passiert?«, fragte er.
Die Frage klang seltsam obligatorisch, hatte wenig mit Neugier und noch weniger mit Sorge zu tun. Seine Leidenschaftslosigkeit war ihr neu und verwirrte sie.
» Es war deinetwegen«, sagte sie und blickte ihr ausgestrecktes Bein entlang.
Er sagte nichts. Er fragte nicht weiter nach. Warum nicht? Das war nicht typisch für ihn. Er war ihr gegenüber nie gleichgültig gewesen, niemals.
Sie ließ das Schweigen zwischen ihnen stehen, während sie sich fertig anzog. Dann ging sie zum Spiegel hinüber und kämmte ihr dichtes Haar. Er blieb auf seinem Stuhl und betrachtete sie. Ihre Blicke trafen sich im Spiegel.
Bis zu diesem Augenblick war sie von ihrer Ohnmacht noch benommen gewesen, ihre Aufmerksamkeit gedämpft. Doch seinen Blick im Spiegel zu sehen versetzte ihr einen unerwarteten Schock, plötzlich kam ihr sein Spiegelbild äußerst böse vor, und sie empfand den Drang herumzuwirbeln und nach ihm zu schauen. Sie hatte Angst, dass er hinter ihrem Rücken etwas tat, was ihr das Spiegelbild nicht zeigte. Sie brauchte ihre gesamte Willensstärke, um sich auf das Bürsten ihres Haares zu konzentrieren und ihre Angst zu verbergen.
Irgendwie gelang es ihr, fertig zu werden, und sie kehrte zum Fußende des Bettes zurück, ohne ihn anzuschauen. Sie setzte sich und zog ihre Stöckelschuhe an.
» Nicht neugierig?«, fragte sie und schlug die Beine übereinander.
» Du hast mir beim letzten Mal gesagt, dass ich aus deinem Kopf rausbleiben soll.«
Ernst sah sie ihn an. Was gerade geschehen war, hatte bewiesen, dass er sich in ihrem Kopf herumtrieb. Der Glasvogel war ein Objekt aus dem innersten Kern ihrer dunkelsten Erinnerungen, wie Säure hatte es ihr Herz weggefressen.
Sie blickten einander an, und die beängstigende Wahrheit stieg wie eine Welle von Übelkeit in ihr hoch. Er war jetzt so tief in ihrer Seele, dass er nicht mehr herumforschen musste. Er konnte jederzeit, wenn er das wollte, in ihre Psyche hineingreifen und an den Fäden des Stoffes ziehen, aus dem sie gewebt war. Das beiläufige Verhalten, das sie jetzt an ihm bemerkte, war keine Gleichgültigkeit. Es war Genugtuung, eine eiskalte Arroganz.
Kapitel 17
Er fuhr fürs Frühstuck runter zu Rose’s Café und war um halb neun zurück in seinem Arbeitszimmer. Zu diesem Zeitpunkt wartete bereits Büchers Datei auf Fanes Rechner.
Er konnte sich das Überwachungsvideo dreimal ansehen, bis die Türglocke läutete. Er blickte auf den Überwachungsmonitor, der in einem chinesischen Schrank vor neugierigen Blicken verborgen war, und sah Roma, die unten im Hof unter den Palmen wartete. Er ließ sie herein.
Sie trug einen Becher frischen Kaffee in der einen und eine Tüte mit Gebäck in der anderen Hand, als sie in Fanes Arbeitszimmer trat. Sie ging zu einem Hocker hinüber, der vor dem Sofa stand, um alles auf dem Tablett aus Ebenholz abzustellen, aber er war voll mit Büchern über Fotografie.
» Noch mehr neue Bücher? Porträts?«
» Ja, ein paar.«
Sie warf ihm einen Blick zu, in dem Besorgnis und Neugier lagen, als sie die Bücher auf das Sofa hinüberräumte und die mitgebrachten Sachen auf das Tablett stellte. Das Morgenlicht fiel durch das Fenster, das fast die ganze Wand einnahm und den Blick auf die Terrasse und über die Bucht freigab.
» Du bist besessen«, sagte sie, als sie sich aufs Sofa setzte und den Deckel von ihrem Kaffeebecher abnahm. » Du übertreibst das mit den Fotos.«
» Wahrscheinlich«, gab er zu.
In den letzten achtzehn Monaten hatten Fane und Roma viel gemeinsam durchgemacht. Obwohl sie sich seit Jahren kannten, hatten sie nie zusammen gearbeitet, bevor sie aus Mexiko-Stadt hergekommen war.
In vielen Bereichen lernten sie noch, bastelten an der Partnerschaft. Aber sie fühlten sich inzwischen miteinander wohl. Es fühlte sich » gut« an, und mit jedem Tag mehr. Und das war in Ordnung, weil ihre neue Verbindung unter so schwierigen Umständen begonnen hatte.
Roma hatte erst ein paar Monate mit ihm zusammengearbeitet, als Dana starb, und sein seelischer Kollaps hatte Roma in eine unmögliche Situation gebracht. Sie litt immer noch unter dem Trauma der Auslöschung ihrer Familie in Kolumbien neun Monate zuvor, und sie war emotional nicht in der Lage, ihm zu helfen. In einem Schmalzfilm hätten sie sich gegenseitig getröstet, Kummer zu Kummer, mit Empathie und Verständnis für den Schmerz des anderen. Aber das war hier nicht
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