Der Seelenleser
zwischen dem Traum und dem Hier und Jetzt. Er stand auf, zog seinen Morgenmantel über und ging durch den bogenförmigen Durchgang in sein Arbeitszimmer.
Er war ein Klarträumer, und es war dieser Traum, durch den ihm dieser Zustand bewusst geworden war. Manche glaubten, es wäre eine Fähigkeit, aber für ihn war es ein ganz normaler Zustand. Und eigentlich war der Traum auch kein Traum, sondern eine erschreckend lebendige Erinnerung.
In den ersten neun Jahren nach dem Zusammenstoß war er sich selbst fremd gewesen, ein ungezügelter Junge, dem sieben Jahre Erinnerung fehlten, gestohlen von dem Neunachser, der in dieser Nacht in ihr Auto gefahren war. Er hatte lückenhafte Erinnerungen an seine Mutter und daran, wie sehr er sie geliebt hatte– ihn erfüllte eine schmerzliche Nostalgie, die stärker war als die eigentliche Erinnerung an die Frau. Diese verschwommenen Bruchstücke von Stimmen und Gesichtern konnten ihn rasend machen, und manchmal fragte er sich, ob diese Details nicht nur eine Fata Morgana waren, geboren aus diesem schwer zu definierenden Sehnen, dem er nicht entkommen und das er nicht befriedigen konnte. Er war gewissermaßen im Moment des Unfalls geboren worden, obwohl er da schon sieben Jahre auf der Welt war. Der Unfall war sein Geburtstrauma. Der Unfall war alles, was er von seiner Vergangenheit wusste.
Doch er wusste auch, dass da noch mehr war, und das Fehlen seiner Vorgeschichte verfolgte ihn. Die gesamte Existenz seiner Eltern war in diesen wenigen Momenten des Erinnerungstraums gefangen, und er hatte einen guten Teil seiner Kindheit damit verbracht zu versuchen, die Frau aus dem Vergessen zu befreien, die in den letzten Augenblicken ihres Lebens sein Bein gestreichelt hatte.
Fane ging zum Tisch hinüber und goss sich ein Glas Wasser aus der Karaffe ein. Er setzte sich in einen Sessel und trank im Halblicht langsam das Wasser.
Als er sechzehn geworden war, hatten die Klarträume begonnen, ungefragt und überwältigend. Im Verlauf von Hunderten Nächten strömte seine Kindheit in sein Bewusstsein zurück, und sein Verstand saugte die Erinnerungen auf wie ein Schwamm, als ob sein Leben davon abhängen würde. Die Szenen wühlten durch ihre Eindringlichkeit seine Gefühlswelt so sehr auf, dass er am nächsten Tag nicht zur Schule gehen konnte. Und dennoch war ihm die Rückkehr seiner Kindheit willkommen.
Vor dieser Nacht hatte er diesen Traum eine lange Zeit nicht mehr gehabt, doch er wusste, was ihn hervorgerufen hatte: Vera Lists Erwähnung von Elise Currins traumatischen Erfahrungen in Pflegefamilien. Auch jetzt, so viele Jahre später, erinnerte sich Fane noch mit einer Mischung aus Dankbarkeit und Bedauern an seine Pflegefamilie.
Das Paar, bei dem er lebte, als die Träume begannen, war überfordert. Die beiden waren gute Menschen, aber was mit diesem Jungen geschah, überstieg ihre Kapazitäten. Für sie war es eine Folter, und er konnte verstehen, dass sie den Kinderschutzdienst baten, ein neues Heim für ihn zu suchen.
Aber Marten wollte nicht noch einmal umgepflanzt werden. Außerdem hatte er jetzt ja seine Familie wiedergefunden– in den wunderbaren Träumen war sie samt seiner verlorenen Erinnerungen zu ihm zurückgekehrt. In der Nacht, bevor er in ein Heim gebracht werden sollte, riss er aus. Mit sechzehn stand er auf eigenen Füßen.
Die Lichter der Stadt erfassten den wabernden Nebel und sorgten für ein blasses Leuchten jenseits der Terrassenmauer, das die Bougainvilleen in ein filigranes Muster von Silhouetten verwandelte. Fane schaute hinaus und erinnerte sich an die ersten Jahre seiner Unabhängigkeit.
Es war das Ende seiner Isolation und der Anfang einer Selbstfindung gewesen, die viele Möglichkeiten barg, furchtbar schiefzugehen, was aber nicht geschehen war. Zum Teil war es Glück gewesen, dass er überlebt hatte, zum Teil sein Geschick und zu einem sehr großen Teil auch die Großherzigkeit von anderen. Er fragte sich manchmal, was mehr Einfluss auf seine Entwicklung zu dem Mann, der er jetzt war, gehabt hatte: die Isolation seiner Jugend ohne Erinnerung an seine Kindheit oder die Zeit der Unabhängigkeit danach, wo jede Entscheidung und jede Veränderung ein Werfen der Würfel, ein Herausfordern des Glücks war.
Er trank den letzten Schluck Wasser und stellte das Glas auf den Tisch zurück. Er brauchte unbedingt noch etwas Schlaf, aber er wollte nicht in den Traum zurückfallen. Und er war auch nicht in der Stimmung, etwas zu lesen oder in seinen
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