Der Seelenleser
Verbotenen war immer noch da und hatte sich sogar verschärft.
» Ich möchte es jetzt nicht öffnen«, sagte sie.
» Warum?«
» Warum hast du ein schwarzes Geschenkband gewählt?«
Er schaute das Päckchen an, als hätte er vorher noch nicht bemerkt, dass das Band schwarz war. Er blickte zu ihr hinüber.
» Die Frau im Souvenirladen hat es eingepackt. Sie hat es ausgewählt.«
» Du hast sie nicht darum gebeten, schwarzes Geschenkband zu verwenden?«
Er schüttelte langsam den Kopf, verwirrt. » Nein… Sie meinte, das würde… Ich glaube, sie hat › elegant aussehen‹ gesagt.«
Falls es elegant war, war es jetzt für sie zu spät, um das noch zu bemerken. Sie hatte längst etwas anderes mit diesem Päckchen verbunden. Es war unwillkürlich geschehen und hatte keinen Raum für eine andere Interpretation gelassen. Vor allem nicht für elegant.
» Ich ziehe mich erst an«, sagte sie und stellte ihr Glas ab.
» Elise?« Er schaffte es, gleichzeitig zu lächeln und finster zu blicken. Er legte ihr die Hand auf den Oberschenkel.
Sie zuckte zusammen. Vor wenigen Minuten war er noch in ihr gewesen, sie war eifrig und furchtlos gewesen. Aber jetzt schien seine Hand auf ihrem Oberschenkel roher zu sein, als wenn sie Sex hatten.
» Was ist los?«, fragte er.
Sie hätte es nicht begründen können, doch sein Lächeln kam ihr plötzlich unaufrichtig vor. War es dieser Ausdruck von Zärtlichkeit auf seinem Gesicht, von dem sie glaubte, dass er nur gespielt war? Ihr sechster Sinn sagte ihr, dass irgendetwas hier falsch lief.
Er nahm das Glas, das sie vor sich abgestellt hatte, und stellte es zur Seite. Dann griff er nach der smaragdgrünen Schachtel mit dem schwarzen Band und legte sie ihr in den nackten Schoß.
Im Zusammenhang mit ihrer Affäre war Nacktheit immer natürlich oder belanglos gewesen. Noch vor wenigen Minuten war sie irrelevant.
Doch jetzt erschien ihr sein Körper abstoßend, sie spürte Untertöne von Aggressivität, von Boshaftigkeit. Sie fühlte sich plötzlich unwohl in ihrer eigenen Nacktheit. » Pack es aus«, sagte er.
War sein Tonfall bedrohlich? Oder ermutigend?
Sie schob zwei Finger unter die Schachtel und prüfte das Gewicht. Sie war nicht leicht. Ihre Finger zogen sanft an der schwarzen Schnur und ließen sie zu Boden fallen. Das smaragdgrüne Papier fiel von einer kleinen weißen Schachtel ab und landete neben dem Band auf dem Boden. Sie öffnete die Schachtel, schob das weiße, weiche Seidenpapier beiseite und nahm die kleine grüne Kristalltaube aus ihrem Nest, perfekt, wunderschön und glitzernd.
Sie hielt sie zitternd in der Handfläche, nur einen Moment, bevor sie in Ohnmacht fiel.
Als sie wieder zu sich kam, lag sie auf dem Gesicht, einen Arm unter dem Körper eingeklemmt, ein Bein schmerzhaft verdreht. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis sie wieder einen klaren Kopf bekam, doch sie bemerkte, dass sie nur wenige Momente lang bewusstlos gewesen war. Sie war unachtsam auf das Bett gelegt worden. Sie war immer noch nackt. Er hatte sich nicht die Mühe gemacht, ihr einen nassen Waschlappen aufs Gesicht zu legen oder eine Decke über sie zu breiten, ja, er hatte sie nicht einmal auf den Rücken gedreht.
Langsam zog sie den Arm unter dem Körper hervor, streckte ihre Beine und drehte sich um. Er war auf der anderen Seite des Raums und zog sich an, er hatte ihr den Rücken zugekehrt. Sie lag auf dem Bett, fühlte sich schwindelig und schwach. Sie räusperte sich.
Er drehte sich um und schaute ungerührt zu ihr herüber, während er sich das Hemd zuknöpfte.
» Du bist in Ohnmacht gefallen«, sagte er und steckte den Hemdzipfel in die Hose.
Sie sammelte sich und setzte sich auf. Langsam stellte sie die Füße auf den Boden. Ihr Fuß stieß gegen etwas. Die Kristalltaube. Die Schachtel und die Verpackung lagen auch immer noch auf dem Boden. Obwohl sich in ihrem Kopf alles noch hinter einem Schleier zu befinden schien, war sie doch tief verwundet.
Sie stand vorsichtig auf, und als ihre Beine nicht mehr wackelten, ging sie ins Badezimmer hinüber und schloss die Tür. Sie wusch sich das Gesicht und ging dann auf die Toilette. Sie drehte das warme Wasser an und reinigte sich mit einem Waschlappen.
Als sie ins Zimmer zurückkam, band sich Ray Kern gerade die Schnürsenkel. Sie ging zu dem Stuhl hinüber, auf dem ihre Kleider lagen, und begann sich anzuziehen. Kern lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und schaute ihr schweigend dabei zu. Erst als sie sich auch setzte, um ihre
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