Der Seelenleser
Porträtbüchern zu blättern. Erst jetzt kam ihm die Idee, auf die Uhr zu schauen. Es war 03:42. Roma und ihr Team waren wahrscheinlich inzwischen mit Vera Lists Praxis fertig, und möglicherweise hatte sie ihm schon eine Nachricht geschickt.
Er hatte vorhin sein BlackBerry leise gestellt und auf den Tisch gelegt. Er beugte sich vor, griff danach und schaltete es ein. Mehrere Nachrichten warteten auf ihn, aber er hörte nur Romas ab.
Wie immer war sie sehr effizient gewesen, und er freute sich, dass sie am Morgen vorbeikommen würde. Er mochte es, wenn sie hier war. Sie füllte die Leere im Haus auf eine Art und Weise, die er schlecht erklären konnte, und jedes Mal war er aufs Neue überrascht, wie ungern er sie wieder gehen ließ, wenn sie sich schließlich verabschiedete.
Er brauchte etwas Schlaf, auch wenn ihm bewusst war, dass Roma wahrscheinlich auch jetzt erst ins Bett ging. Herrgott, er musste aufhören, zu viel zu denken.
Er bemühte eine alte Ablenkungstaktik, um seine Gedanken zur Ruhe zu bringen. Er suchte sich ein Objekt im Dämmerlicht, auf das er sich konzentrieren konnte– eine Gestalt, einen Umriss, einen Schatten. Seine Augen blieben auf der schwarzen Verästelung der Bougainvilleen auf der Terrasse hängen, und er wartete auf eine Assoziation.
Er erinnerte sich an ein Haus in Mexiko-Stadt, im hochgelegenen Distrikt San Angel, wo er in den Wanderjahren seiner neu gefundenen Unabhängigkeit ein Jahr lang viele Sommernächte verbracht hatte. Er suchte sich eine dieser Nächte aus und begann, sie zu rekonstruieren. Bewusst und methodisch, Detail um Detail, erweckte er die Erinnerungen wieder zum Leben: den eleganten Garten hinter den hohen Mauern, die von tropischen Pflanzen gesäumten Wege, den Springbrunnen, die Singvögel in ihren Käfigen; dann die Kolonialarchitektur, jeden Raum mit seinen Farben, den Gemälden und Möbeln; die kalten Steinflure unter seinen nackten Füßen, das Zwielicht in den Räumen, das sanfte Geräusch von Stimmen, die bekümmerte Frau, die dort lebte, und die filigrane schwarze Tätowierung von Ranken, die am unteren Ende ihrer Wirbelsäule begann.
Kapitel 16
» Ich möchte dir das schenken«, sagte er und legte das kleine Päckchen neben Elises nackte Hüfte aufs Bett. Er war aufgestanden, zum Stuhl hinübergegangen, über den er seine Sachen gehängt hatte, und war mit dem Päckchen zurückgekommen. Im Licht der Lampe sah sie glitzernd grünes Einwickelpapier, von schwarzem Band zusammengehalten.
» Es ist nichts Besonderes«, sagte er, » aber als ich es in dem kleinen Souvenirladen sah, musste ich sofort an dich denken.«
» Warum?«
» Keine Ahnung. Du bist einfach in meinen Gedanken aufgetaucht.«
Das Haus, in dem sie auf dem Bett saßen, stand weit oben an der Buena Vista Avenue, über Haight. Unterhalb der hohen Fenster des viktorianischen Gebäudes trieb die Wolkendecke langsam durch die Dunkelheit, mal dick, mal dünn, und ließ immer wieder einen kurzen Blick auf die Stadt unter ihnen zu, die in wechselnde Streifen gespenstischen Lichts gehüllt war.
Sie berührte das Päckchen nicht. Sie saß aufrecht, ein Glas Gin in der Hand. Sie waren in diesem Haus schon einmal gewesen, in der ersten Zeit ihrer Affäre. Wenn das Wetter klar war, konnte man über die Stadt bis hinunter an die Bucht sehen.
Sie nippte am Gin und schaute auf das Päckchen. Eine schwarze Schleife. Warum hatte er es ihr gegeben, während sie nackt war? Sie waren doch gerade dabei gewesen, sich anzuziehen. Hätte er nicht noch ein paar Minuten warten können?
» Na mach schon auf«, ermutigte er sie. Er lächelte, aber es kam ihr nicht wie ein glückliches Lächeln vor, wie man es von jemandem erwarten würde, der deine Reaktion auf ein Geschenk vorherahnt.
» Ich denke, ich mache es später auf, vielen Dank«, sagte sie.
» Später? Was meinst du damit? Komm schon!«
» Warum hast du mir ein Geschenk gekauft?«
Er verzog das Gesicht, von ihrer Reaktion und von ihrem Zögern überrascht. » Es ist nur ein ganz kleines Ding. Ein Nichts.«
Sie nippte am Gin, um den Impuls zu verbergen, ihn ganz herunterzukippen. Sie hatten heute sofort Sex gehabt. Auf ihren Wunsch hin. Sie musste es zuerst haben, weil sie ein Verlangen nach Sex hatte, er gleichzeitig nötig und eine Flucht war. Ihre Affäre hatte sich, wie das eben bei Affären immer der Fall war, weiterentwickelt. Aber es war nicht die vorhersagbare Entwicklung in Richtung zu viel Vertraulichkeit. Das Kribbeln, der Reiz des
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