Der Seelenleser
gegen mich betraf«, sagte Vera, » redete ich bei verschiedenen Gelegenheiten mit ihrem Mann darüber. Er verstand ihn genauso wenig wie ich. Wir waren beide nur verwirrt. Es war… einfach schrecklich unglücklich… und verstörend.«
Vera setzte ihre Teetasse auf der Ecke eines kleinen Schreibtisches ab. Sie blickte auf die Bucht hinaus. Alcatraz war nicht mehr zu sehen. Es regnete.
» Glauben Sie mir, ich hatte unglaubliche Schuldgefühle«, sagte sie. » Was hatte ich übersehen? Wie hatte ich sie so falsch einschätzen können?«
Sie stand auf und ging zum Fenster hinüber. Es erinnerte Fane daran, wie sie nur zwei Abende vorher im Stafford-Hotel zum Fenster gegangen war. Sie nahm die gleiche Pose ein und blickte mit dem gleichen konsternierten Gesichtsausdruck nach draußen.
Fane wartete einen Moment, bis er seine nächste Frage stellte. » Ich würde gerne noch einmal auf Elise zurückkommen«, sagte er. » Es scheint mir, wenn Sie über sie reden, dass da etwas in Ihrer Stimme ist– vielleicht ist es auch Ihre Wortwahl? Jedenfalls frage ich mich, ob es sein kann, dass Sie zu ihr nicht die gleiche therapeutische Distanz haben wie zu Ihren anderen Klienten?«
Vera zeigte keine Reaktion. Sie bewegte sich nicht und blickte weiter in das düstere Abendlicht. Dann drehte sie sich vom Fenster weg, kehrte zu ihrem Stuhl zurück und setzte sich. Sie blickte ihn an. » Es überrascht mich nicht, dass Sie das gemerkt haben. Sie haben ein ungewöhnlich gutes Wahrnehmungsvermögen. Die Wahrheit ist, dass ich es nicht gut hinbekommen habe, mich von Elise › zu distanzieren‹. Und das ist ein Verstoß gegen eine der Kardinalregeln der Psychoanalyse, wie Sie sicher wissen. Ausgehend von dem, was ich Ihnen bereits über sie erzählt habe, können Sie sich sicherlich vorstellen, dass ihr Leben schrecklich gewesen ist. Aber es war schlimmer, viel schlimmer, als Sie sich das vorstellen. Verstehen Sie, als Psychiaterin und Psychoanalytikerin habe ich ständig mit solchen Leuten zu tun. Eigentlich immer. Sie ist kein Einzelfall. Und doch ist sie es für mich. Um es ganz hart zu sagen: Sie ist die einzige Klientin, die ich jemals hatte, bei der ich es nicht geschafft habe, objektiv zu sein. Ich weiß nicht, warum. Und Sie können mir glauben, dass mir das zugesetzt hat. Ich hätte sie schon vor langer Zeit an eine andere Analytikerin weitervermitteln sollen. Aber ich habe es nicht getan. Ich möchte sie nicht gehen lassen.
Ich will Ihnen gegenüber ehrlich sein: Ich weiß, dass ich in Bezug auf Elise absolut unprofessionell handele. Ich war sogar bei ihr zu Hause, einige Male, wenn sie mich brauchte.« Sie hielt inne, um nachzudenken. » Sie kämpft so hart, sie ist so tapfer– und so zerbrechlich. Ich kann bei ihr nicht objektiv sein. Ich kann es einfach nicht. Und ich will es auch nicht. Möge der Herrgott mir helfen, sie bricht mir das Herz.«
Fane wusste nicht, wie er auf dieses Geständnis antworten sollte, er hatte das Gefühl, als ob Vera ihn auf eine Weise ins Vertrauen gezogen hätte, die für sie selten und ungewöhnlich war. Sie gab ihm kaum Zeit für eine Antwort.
» Ich kann mir nicht vorstellen, was die Beweggründe dieses Mannes sind«, sagte sie. » Aber selbst wenn Sie ihn aufhalten können, bevor er jemanden wirklich verletzt, wird es für mich nicht einfach sein, mit dem Wissen zu leben, dass ich Elise und Lore so hintergangen habe, dass ich sie absichtlich durch so eine Hölle gehen lasse.«
Fane hatte von Anfang an gewusst, dass Vera die wahren Kosten ihrer Entscheidung unterschätzen würde. Leute, die so verzweifelt sind, dass sie sich anderen ausliefern, wägen meistens Hoffnung gegen Realität ab. Für ihn war dies eine der traurigen und gleichzeitig wundervollen Wahrheiten über die Natur des Menschen.
Kapitel 22
Roma saß in ihrem Auto, das sie am Straßenrand unweit der Parkgarage in der Carl Street geparkt hatte. Als Celia Negris alter Volvo auf die Straße bog und nach Osten in Richtung Stanyan Street fuhr, hängte sich Roma an sie. Ein paar Minuten später bog Celia ab und hielt an einem kleinen Eckladen für Lebensmittel an.
Roma wartete. Hier kamen zu viele Leute vorbei. Aber sie wollte Celia auch nicht in ihrem Auto oder in ihrer Wohnung ansprechen, beide könnten verwanzt sein.
Als Celia wieder aus dem Geschäft herauskam, wurde es schon langsam dunkel, und Roma folgte dem Volvo in das Labyrinth aus krummen Straßen in der Nähe von Kite Hill. Sie setzte darauf, dass Celia
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