Der Seelenleser
mehrere Wochen gedauert, bis Vera schließlich begriffen hat, was los war. Sie beide kennen den Mann unter jeweils einem anderen Namen. Er ist in diese Praxis eingebrochen und hat Ihre Akten gelesen. Er weiß alles, was Sie Vera jemals erzählt haben, alles, worüber Sie mit ihr diskutiert haben. Und er hat dieses Wissen ausgenutzt, um seine Beziehung mit Ihnen entsprechend zu gestalten.«
Elises Kopf schoss hoch, und Lore blieb der Mund offen stehen.
Fane brauchte es nicht weiter auszuführen. Beiden war sofort unerträglich klar geworden, was Kroll getan hatte. Jede der Frauen durchlief im Kopf die Stationen ihrer eigenen Demütigung. Die Bestürzung war beinahe mit Händen zu greifen.
Fane nahm den Faden weiter auf. » Vera war völlig außer sich. Es dauerte drei Tage, bis sie sich entschlossen hatte, etwas zu unternehmen. Das Allererste, was sie mir gegenüber betont hat, war ihre Sorge um die Vertraulichkeit der Inhalte Ihrer Sitzungen. Der Schutz Ihrer Privatsphäre.«
Fane war überrascht, dass Elise zuerst Worte fand. Sie blickte Vera an, doch die Frage, direkt und schmerzlich, war an ihn gerichtet. Die Qual in ihrem Tonfall war nicht zu überhören.
» Warum… ist sie damit nicht zu uns gekommen? Wie konnte sie… nicht zu uns kommen und uns das sagen?«
Fane warf Vera einen Blick zu, die Elises Blick standhielt, weder die Augen niederschlug noch den Kopf hängen ließ. Sie stellte sich ihrem Albtraum mit aller Würde, die sie noch zum Ausdruck bringen konnte.
» Sie war– und ist– in einer unmöglichen Situation«, erklärte Fane. » Dieser Mann hatte Zugriff auf die Unterlagen aller ihrer Klienten. Sie beide sind nicht die Einzigen, über die sie sich Gedanken machen muss. Sie konnte nicht mit jedem darüber sprechen, weil sie nicht wusste, wer von ihren Klienten in Kontakt mit diesem Mann steht. Der einzige Grund, warum sie in Ihrem Fall dahintergekommen ist, ist der, dass sie irgendwann… Ähnlichkeiten zu entdecken begann. Muster, ähnliches… Verhalten.«
» Oh– das ist…«, stöhnte Lore.
Elise war wie erstarrt und schien zutiefst peinlich berührt zu sein.
» Wie Sie sich vorstellen können«, fuhr Fane fort, » könnte es sein, dass er auch andere Frauen missbraucht«– er verwendete das Wort absichtlich–, » ohne dass es direkte Parallelen zu Ihren Fällen gibt. Wo er ganz anders vorgeht. Es gab für Vera keine Möglichkeit, es herauszufinden. Und sie muss auf alle Klienten gleichermaßen Rücksicht nehmen.«
Wieder warf Fane einen kurzen prüfenden Blick zu Vera hinüber, die hart schlucken musste, aber deren Aufmerksamkeit weiterhin ihren beiden erschreckten Klientinnen galt.
» Also«, erklärte Fane, » sein wirklicher Name lautet Ryan Kroll, und die ganze Situation ist deswegen so kompliziert, weil er einen spezifischen Hintergrund hat.«
Er erzählte von Krolls Vergangenheit. Dabei ließ er genaue Bezeichnungen weg und redete nur von » internationalen Geheimdiensten«. Er berichtete von den Geheimgefängnissen, den psychologischen Techniken und deren Missbrauch. Sie mussten wissen, mit welchen Kenntnissen Kroll sie manipulierte.
Beide Frauen waren überwältigt. Fane erzählte weiter, bis alles Relevante auf dem Tisch war. Es war viel, was die beiden Frauen verarbeiten mussten. Als er endlich fertig war, herrschte Stille im Raum.
Vera trat vor. Sie hatte die Arme weiterhin verschränkt und hielt sich gerade. » Wir werden Ihre Fragen so gut beantworten, wie wir können. Es tut mir so leid. Ich weiß, was für ein Schock das sein muss.«
Während der nächsten eineinhalb Stunden schossen Fragen wie Sturzbäche aus Elise und Lore heraus. Nachdem Lore ihren Schock überwunden hatte, war sie abwechselnd wild und verängstigt, erhitzt und weinerlich, kämpferisch und panisch.
Aber Fane war eher wegen Elise besorgt, deren Beziehung mit Kroll die größere und grausamere Veränderung durchlaufen hatte. Jetzt zu entdecken, dass selbst die Freundlichkeit und Großzügigkeit, die Kroll zu Beginn der Beziehung gezeigt hatte, in Wahrheit unehrlich und zynisch geplant waren, musste sie tief getroffen haben.
Schließlich verebbten die Fragen, und die beiden Frauen saßen still da, abwartend, was noch auf sie zukommen würde.
Fane ergriff das Wort. » Sie dürfen nie vergessen, dass alles, was Sie unter dem Siegel der Vertraulichkeit mit Vera besprochen haben, jetzt in Ryan Krolls Händen ist. Wir haben noch keine Ahnung, was er mit diesen Unterlagen zu tun plant, aber
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