Der Seelenleser
versaut und damit diese Jagd ausgelöst. Deswegen sind sie so schnell so weit gekommen. Wusste Moretti davon, wie Kroll Vector verlassen hat?«
» Nein, ich habe ihm die ungefähren Umstände genannt.«
Der Grund für Krolls Verschwinden– und Vectors Unfähigkeit, ihn zu finden– war im inneren Kreis der Nachrichtendienstler totgeschwiegen worden. Niemand redete mehr darüber, zumindest nicht offen. Es war ein Stachel, der tief im Fleisch saß. Das Einzige, was sein Verschwinden halbwegs tragbar gemacht hatte, war die Tatsache, dass Vector– so hart sie es auch versuchten– keine Beweise dafür finden konnte, dass Kroll Insiderwissen an Dritte verkauft oder für sich selbst verwendet hatte.
Andere wiederum gestanden ihm zu, dass genau das einen guten Spion ausmache. Das, was Kroll an Wissen mitgenommen hatte, würde Vector nicht umbringen. Allerdings bestand seither immer dann eine Unsicherheit, wenn im operativen Geschäft etwas schiefgelaufen war: War es einfach Pech gewesen, Inkompetenz oder Überlegenheit der Gegner– oder doch Krolls Insiderwissen, das er an Vectors höchstbietenden Konkurrenten verkauft hatte?
Der Mann zog an seiner Zigarette und stieg weiter die Stufen hinab. Hier und da drang Licht aus den Häusern auf den Hügeln. Der Kontrast ließ die Schatten tiefer werden, die dämmerungsgraue Vegetation versank immer mehr im Schwarz.
» Kurz gefasst«, sagte der Mann, » haben die ein Zeitproblem.«
» Definitiv.«
» Wissen Sie, wie diese Leute an den Kroll-Auftrag gekommen sind? Ist das überhaupt ein Auftragsmord? Vielleicht ist es ja auch etwas anderes.«
» Moretti hat das im Unklaren gelassen, aber ich habe nicht den Eindruck, dass sie auf eigene Rechnung hinter ihm her sind.«
» Was haben Sie ihm erzählt?«
» Nur die Grundlagen– alles das, was er wahrscheinlich in wenigen Tagen selbst herausgefunden hätte. Dadurch hat er etwas Zeit gespart, und für mich ist es einfacher, ihn ebenfalls um einen Gefallen zu bitten, falls ich das eines Tages muss.«
» Gut. In Ordnung.« Der Mann schwieg, während sie den nächsten Treppenabsatz hinuntergingen.
Parker war in einem gewissen Grad verwundert über die Reaktion des Mannes auf die erstaunlichen Neuigkeiten. Parker hatte einen Wutausbruch erwartet, doch der Mann war– wenn man einmal von der offensichtlichen Überraschung absah– eher nachdenklich als aufgebracht. Und es hätte jede Menge Gründe gegeben, sich aufzuregen. Da hatte nicht nur eine andere Geheimdienstorganisation die Hände um Krolls Hals gelegt, nein– es war auch noch hier in San Francisco geschehen, direkt vor ihrer Nase. Nicht in Bangkok oder Bahrain, wie jeder es erwartet hätte. Das war noch demütigender.
Doch der Mann schien Parkers schockierende Enthüllungen eher so aufzunehmen, als wäre es nur ein kleiner Zug in einem viel größeren Spiel. Etwas, das er in seinen Überlegungen mit einkalkulieren musste, und nicht etwas, wo er massiv Ressourcen einzusetzen hatte, um eine größere Gefahr abzuwenden.
Einmal blieb der Mann kurz stehen, ließ seine Zigarette auf die Stufen fallen, trat darauf und zerdrückte sie mit der Langsamkeit dessen, der mit einem anderen Thema beschäftigt ist. Dann schlenderte er mit den Händen in den Taschen weiter.
Nach einer Minute oder zweien hielt der Mann an und wandte sich zu Parker um. Leise sagte er: » Falls Shen Moretti nichts über unsere Situation mit Kroll wusste…«, begann er, » hat er nach dem Gespräch erkannt, dass seine Freunde mitten in einer Sache drin sind, die für Vector von größter Wichtigkeit ist– und dass er die Katze aus dem Sack gelassen hat, indem er mit Ihnen geredet hat. Er muss wissen, dass Sie genau das tun würden, was Sie getan haben– nämlich jemandem bei Vector berichten. Er wird erwarten, dass wir uns draufstürzen, dass wir alles tun, was in unserer Macht steht, um Kroll in unsere Hände zu bekommen.«
Genau das hatte Parker ebenfalls erwartet. Er hatte angenommen, dass die Neuigkeiten, die er dem Mann brachte, eine größere operative Sache nach sich ziehen würden… Doch genau das schien nicht der Fall zu sein.
» Für mich klingt es danach, als ob diese Leute die Geschichte bereits zum Abschluss brächten«, sagte der Mann. » Die Zeit ist zu kurz. Und wenn sie zu wissen glauben, was wir tun werden, werden sie auf der Hut sein und noch schneller zuschlagen. Ich glaube nicht, dass wir eine realistische Chance haben, ihnen die Sache noch aus der Hand zu nehmen. Jedenfalls
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