Der Seelensammler
und der ihm das Gedächtnis geraubt
hatte? Würde er das Richtige tun? Kann man jemandem verzeihen, der für seine
Taten niemals büßen muss? So gesehen konnte er diejenigen, die auf eine Tat
reagierten, indem sie selbst ein Verbrechen begingen, nicht wirklich
verurteilen.
Diesen Menschen war eine enorme Macht gegeben worden. Und derjenige, der das getan hatte, war ein Pönitenziar.
Als Marcus das klar geworden war, hatte er nicht mehr gewusst, was
er denken sollte: Einerseits hatte er es als Verrat empfunden. Andererseits
hatte es ihn enorm erleichtert zu wissen, dass er mit seinem dunklen Drang
nicht allein war. Auch wenn er noch nicht wusste, was sein Kollege bezweckte –
allein dass hinter jedem gelösten Fall ein Gottesmann steckte, ließ ihn wieder
für Lara hoffen.
Er wird sie nicht sterben lassen!, redete er sich ein.
Trotzdem spürte Marcus, dass ihm die Ermittlungen zunehmend entglitten.
Die Studentin, die von Jeremiah Smith entführt worden war, hätte eigentlich
seine oberste Priorität sein müssen. Stattdessen dachte er kaum noch an sie. Er
hatte sich von den Ereignissen überrollen lassen und darauf vertraut, dass der
Urheber des Ganzen noch etwas mit dem Mädchen vorhatte. Doch wie passte die
neueste Botschaft des geheimnisvollen Pönitenziars aus der E-Mail an Pietro
Zini dazu:
Was gewesen ist, wird wieder sein.
Was, wenn das alles nur den Zweck hatte, dass er Lara fast rettete,
aber in letzter Minute doch versagte? Mit diesen Schuldgefühlen würde er
anschließend weiterleben müssen. Wie würde sein neues Gedächtnis das
verkraften?
Ich muss der Sache auf den Grund gehen, mir bleibt keine andere
Wahl. Aber ich muss es schaffen, bevor der Kreis sich schließt. Nur so kann ich
ihr Leben retten!, dachte Marcus.
Zunächst gab es allerdings ein dringenderes Problem, um das er sich
kümmern musste.
C.g. 925-31-073.
Das Aktenzeichen, mit dem die Mail endete, verwies auf ein weiteres
ungesühntes Verbrechen. Blut war vergossen worden, ohne dass jemand dafür hatte
büßen müssen. Und irgendwo da draußen stand jemand vor der Entscheidung, Opfer
zu bleiben oder zum Mörder zu werden.
Zwei Monate nach Beginn seiner neuerlichen Ausbildung
hatte Marcus Clemente über das Archiv ausgefragt. Nachdem er schon so viel
darüber gehört hatte, wollte er wissen, wann er es besuchen dürfe. Eines späten
Abends stand sein Freund dann vor der Tür seiner Dachwohnung in der Via dei
Serpenti und sagte: »Es ist so weit.«
Marcus ließ sich durch Rom führen, ohne Fragen zu stellen. Den
ersten Teil der Strecke hatten sie mit dem Wagen zurückgelegt, dann ging es zu
Fuß weiter. Nach einer Weile erreichten sie ein altes Gebäude im Zentrum.
Clemente forderte ihn auf, ihm in den Keller zu folgen. Dann war er vor ihm
durch einen langen, freskierten Flur gegangen, bis sie vor einer kleinen
Holztür standen. Mit einem mulmigen Gefühl sah Marcus zu, wie Clemente sie
aufsperrte. War er wirklich schon reif dafür? Auf einmal schien es ihm viel zu
leicht, dort hineinzugelangen. Seit er das erste Mal vom Archiv gehört hatte,
machte es ihm Angst. Im Lauf der Jahrhunderte waren diesem Ort faszinierende,
aber auch beunruhigende Namen gegeben worden: die Bibliothek des Bösen. Das
Gedächtnis des Teufels. Marcus hatte sich unter diesem Ort daher eine Vielzahl
verschlungener Gänge vorgestellt, voller Regale mit sorgfältig katalogisierten
Beständen: ein Labyrinth, das so groß war, dass man sich leicht darin verlaufen
konnte oder wahnsinnig wurde, wenn man las, was es enthielt. Doch nachdem
Clemente die Tür geöffnet hatte, machte Marcus nur ein verständnisloses
Gesicht.
Er stand vor einem kleinen fensterlosen Raum mit nackten Wänden,
einem Stuhl und einem Tisch. Auf Letzterem lag eine Akte. Clemente bat ihn,
sich zu setzen und sie durchzulesen. Es handelte sich um die Beichte eines
Mannes, der elf Morde begangen hatte. Die Opfer waren ausnahmslos kleine
Mädchen gewesen. Den ersten Mord hatte er mit zwanzig begangen, danach hatte er
es nicht mehr geschafft, mit dem Töten aufzuhören. Er konnte sich selbst nicht
erklären, welch dunkle Macht seine todbringenden Hände führte. Er verspürte
einfach nur den unerklärlichen Drang, die furchtbare Tat zu wiederholen.
Ein Serienmörder. Marcus fragte Clemente, ob er das Morden am Ende
eingestellt habe.
»Ja«, konnte ihn der Freund beruhigen. Allerdings lagen die Taten
mehr als tausend Jahre zurück.
Auch an den folgenden Abenden brachte Clemente ihn in diesen
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