Der Seelensammler
Raum
und legte ihm jeweils einen neuen Fall vor. Schon bald fragte sich Marcus,
warum er ihn dazu immer an diesen Ort führte: Hätte er die Akten nicht genauso
gut auf dem Dachboden lesen können? Die Antwort war einfach: Diese Isolation
war notwendig, damit Marcus eine wichtige Lektion ganz von selbst lernte.
»Das Archiv bin ich!«, sagte er eines Tages zu Clemente.
Der bestätigte ihm, dass die Beweise für das Böse nicht nur an einem
geheimen Ort aufbewahrt wurden, sondern dass das Archiv auch aus den
Pönitenziaren selbst bestand: Jeder kannte einen anderen Teil davon auswendig
und nahm ihn mit hinaus in die Welt.
Dabei hatte Marcus nach Devoks Tod und bis zu dem Abend bei Zini
geglaubt, der Einzige zu sein.
Während er durch das jüdische Ghetto zum Portikus der Octavia hinter
der großen Synagoge lief, ließ ihm dieser Gedanke keine Ruhe. Im alten Rom
hatte dort einst der Tempel der Juno Regina gestanden, anschließend der von
Jupiter Stator. Die Ruinen überspannte ein moderner Steg aus Stahl und Holz,
der auch eine gute Sicht auf den Circus Flaminius bot.
Clemente hielt sich mit beiden Händen am Geländer fest. Er wusste
längst Bescheid.
»Wie heißt er?«, fragte Marcus.
Der junge Priester drehte sich nicht um, die Frage hatte ihn
überrumpelt.
»Das wissen wir nicht.«
Doch diesmal gab sich Marcus nicht mit so einer lächerlichen Antwort
zufrieden. »Wieso kennt ihr die Identität des Pönitenziars nicht?«
»Ich habe nicht gelogen, als ich dir sagte, dass nur Padre Devok
eure Namen und Gesichter kannte.«
»Wann hast du dann gelogen?«, trieb Marcus ihn in die Enge, weil er
spürte, dass Clemente ein schlechtes Gewissen hatte.
»All das hat lange vor Jeremiah Smith angefangen.«
»Ihr wusstet also, dass jemand Geheimnisse aus dem Archiv verrät!«
Darauf hätte er auch selbst kommen können.
»›Was gewesen ist, wird wieder sein.‹ Du wolltest wissen, was das
bedeutet? Prediger Kapitel 1, Vers 9.«
»Seit wann gibt es diese Enthüllungen?«
»Seit Monaten. Es hat schon viel zu viele Tote gegeben, Marcus! Das
tut der Kirche nicht gut.«
Clementes Worte machten ihn traurig. Er hatte geglaubt, all ihre
Bemühungen gälten Lara. Stattdessen war alles ganz anders. »Das interessiert
euch also: Ihr wollt nur das Leck im Archiv stopfen. Verhindern, dass wir zur
Verantwortung gezogen werden, wenn diese Anstiftung zur Selbstjustiz publik
wird. Und Lara, was ist mit Lara? Ist sie nur ein dummer Zwischenfall und ihr
Tod nur ein unvermeidlicher Kollateralschaden?« Er war wütend.
»Du wurdest hinzugezogen, um das Mädchen zu retten.«
»Das stimmt nicht!«, fuhr ihm Marcus über den Mund.
»Was diese Pönitenziare getan haben, verstieß gegen die Beschlüsse
der Kirchenoberen. Ihr wurdet eures Amtes enthoben, euer Orden wurde
abgeschafft. Aber einer wollte weitermachen.«
»Devok.«
»Er war der Meinung, dass es falsch ist aufzuhören. Und dass die
Pönitenziare eine wichtige Aufgabe erfüllen. Das Wissen über das Böse, das wir
dem Archiv entnehmen können, sollte auch weiterhin zur Verfügung stehen. Devok
war von seiner Mission überzeugt. Du und andere Priester habt ihn bei diesem
wahnsinnigen Unterfangen unterstützt.«
»Warum kam er nach Prag, um nach mir zu suchen? Was wollte er dort?«
»Das weiß ich nicht – wirklich nicht!«
Marcus ließ seinen Blick über die Ruinen des römischen Kaiserreichs
schweifen. Allmählich begriff er seine Rolle. »Immer wenn der Pönitenziar ein
Geheimnis lüftet, hinterlässt er Spuren für seine Kollegen. Er will gestoppt
werden. Ihr habt mich nur deshalb neu ausgebildet, damit ich ihn finde. Laras
Verschwinden war nur ein Vorwand. Auf diese Weise konntet ihr mich einbeziehen,
ohne dass ich Verdacht schöpfe. Doch in Wahrheit ist sie euch völlig egal … und
ich bin euch auch egal.«
»Das stimmt nicht! Wie kannst du nur so etwas sagen!«
Marcus trat auf Clemente zu, sodass er ihm in die Augen sehen
musste. »Wäre das Archiv nicht in Gefahr gewesen, hättet ihr mich ohne
Gedächtnis in diesem Krankenhausbett liegen lassen!«
»Nein. Wir hätten dich mit Erinnerungen versorgt, damit du
weiterleben kannst. Ich bin nach Prag gefahren, weil Devok dort umgekommen ist.
Bei dieser Gelegenheit habe ich erfahren, dass er nicht allein war, als er
erschossen wurde. Ich wusste nicht, wer bei ihm gewesen war. Ich wusste nur,
dass ein Unbekannter mit einer Amnesie im Krankenhaus liegt.«
Anfangs hatte sich Marcus diese Geschichte immer wieder
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