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Der Seelensammler

Der Seelensammler

Titel: Der Seelensammler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donato Carrisi
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musste an Federico Noni und die Zeichnungen in dem Schulheft
denken, die er bei ihm zu Hause gefunden hatte. Sie beschrieben die Geburt
eines Monsters. Dass die Gewaltphantasien bis in die Kindheit zurückreichten,
verstörte Marcus. Das Chaos, das er zu entwirren versuchte, enthielt einen
roten Faden, eine Frage: gut oder böse, niederträchtig oder mitfühlend – wurde
man so geboren oder vom Leben erst dazu gemacht? Wie konnte das Böse im Herzen
eines Kindes dermaßen aufblühen? Wie war es davon infiziert worden?
    Es gab diverse Ereignisse, die sicher alle Spuren in Federicos
Psyche hinterlassen hatte: die Mutter, die ihn im Stich ließ. Der viel zu frühe
Tod des Vaters. Aber das war nicht wirklich überzeugend. Viele Kinder machten
Schlimmeres durch und wurden als Erwachsene trotzdem nicht zu Mördern.
    Marcus war klar, dass all diese Gedanken auch mit ihm selbst zu tun
hatten. Die Amnesie hatte zwar seine Erinnerungen gelöscht, nicht aber seine
Vergangenheit. Was war vorher geschehen? Federicos Heft enthielt vielleicht den
Hinweis auf eine Antwort: Jedem Menschen war etwas angeboren, das ihm nicht
unbedingt bewusst war und das nichts mit seinen Erfahrungen oder seiner
Kindheit zu tun hatte. Ein Impuls, der uns stärker definierte als unser Name
oder unser Aussehen.
    Eine der ersten Lektionen, die Marcus in seiner Ausbildung gelernt
hatte, war, nicht auf Äußerlichkeiten hereinzufallen. Clemente hatte ihm den
Fall Ted Bundy vorgelegt. Dieser Serienmörder war nach außen hin ein
unglaublich sympathischer Mensch gewesen. Er hatte eine Freundin, und seine
Freunde beschrieben ihn als liebenswert und großzügig. Dennoch hatte er
achtundzwanzigmal gemordet. Kurz bevor er als gnadenloser Mörder entlarvt
worden war, hatte Bundy noch eine Medaille bekommen, weil er ein Mädchen vor
dem Ertrinken gerettet hatte.
    Wir befinden uns ständig in einem Kampf, dachte Marcus. Aus dem Fall
Bundy hatte er gelernt, dass die Seite, auf die man sich schlägt, nicht von
Anfang an feststeht. Und dass der einzige Richter wir selbst sind, indem wir
immer wieder aufs Neue entscheiden, ob wir nun unserem positiven oder negativen
Impuls folgen.
    Das galt für Täter, aber auch für Opfer.
    So gesehen waren die letzten drei Tage äußerst lehrreich gewesen.
Monica – die Schwester eines der Mädchen, die Jeremiah Smith ermordet hatte –,
Raffaele Altieri und Pietro Zini hatten alle an einem Scheideweg gestanden und
eine Entscheidung gefällt. Man hatte ihnen die Wahrheit offenbart, aber auch
Gelegenheit gegeben, zwischen Verzeihen und Vergeltung zu wählen. Monica hatte
sich für Ersteres entschieden, die beiden anderen hatten die zweite Möglichkeit
gewählt.
    Und dann war da noch die Polizistin, die nach dem Mörder ihres
Mannes suchte. Doch wonach suchte sie wirklich – nach der erlösenden Wahrheit
oder nach einer Gelegenheit, den Täter zu bestrafen? Marcus hatte den Namen
David Leoni noch nie gehört. Wenn die Frau recht hatte, war er ermordet worden,
während er Nachforschungen über die Pönitenziare anstellte. Er hatte ihr
versprochen, den Fall zu lösen, denn er fürchtete, sie könnte ebenfalls Teil
des Racheplans sein, auch wenn er noch nicht wusste, inwiefern. Im Grunde hatte
er ihr dieses Versprechen nur gegeben, um Zeit zu gewinnen. Und weil er spürte,
dass es eine Verbindung zu den anderen Fällen gab.
    Alle, die bisher in die Sache verwickelt waren, hatten ein Unrecht
erlitten, das ihr Leben unwiderruflich verändert hatte. Das Böse hatte nicht
einfach nur zugeschlagen, sondern auch seine Saat hinterlassen. In einigen
Fällen war sie aufgegangen und hatte das Leben der Betroffenen vollkommen
vergiftet. Wie ein heimlicher Parasit hatte sich das Böse von Hass und Groll
ernährt und seinen Wirt verändert. Und genau das machte die Verwandlung
perfekt: Menschen, die sonst nie auf die Idee gekommen wären, jemanden zu
töten, mussten einen schweren Verlust verkraften. Und das machte sie selbst zu
Tätern.
    Dabei konnte Marcus die Opfer, die sich nicht mit der Wahrheit
begnügten, sondern auch strafen wollten, verstehen. Er hatte viel mit ihnen
gemeinsam.
    Er drehte sich zur Wand neben dem Feldbett um und las sich die
beiden letzten Anmerkungen durch, die er sich zu der Szene in dem Prager
Hotelzimmer notiert hatte.
    »Berstendes Glas.« »Drei Schüsse.« Er ergänzte sie durch das Wort
»Linkshänder«.
    Was würde er tun, wenn er sich Devoks Mörder gegenübersähe? Dem
Mann, der versucht hatte, ihn umzubringen,

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