Der Seelensammler
Rom durchsucht haben? Es muss ein wichtiger Fall sein.«
»Ja, liest du denn keine Zeitungen?«
Sie war sprachlos. »Was ist mir entgangen?«
»Dort ist ein Serienmörder gefasst worden. Ein gefundenes Fressen
für die Medien, das müsstest du doch mitbekommen haben!«
Offensichtlich hatte sie etwas verpasst. »Klär mich auf!«
»Ich habe nicht viel Zeit.« Im Hintergrund waren Stimmen zu hören.
Offensichtlich hatte sich De Michelis ein wenig abgesondert, um ungestört
telefonieren zu können. »Also: Es geht um einen gewissen Jeremiah Smith, vier
Opfer in sechs Jahren. Vor ein paar Tagen hatte er einen Herzinfarkt. Es kommt
ein Krankenwagen, und noch während des Rettungseinsatzes stellt sich heraus,
dass er ein Mörder ist. Er liegt im Krankenhaus, ist aber so gut wie tot.«
Sandra wurde nachdenklich. »Verstehe. Ich muss dich um einen
Gefallen bitten.«
»Noch einen?«
»Diesmal um einen besonders großen.«
De Michelis murmelte irgendetwas, das sie nicht verstand. Dann sagte
er: »Raus mit der Sprache …«
»Ich brauche einen Dienstbefehl für diesen Fall.«
»Das soll wohl ein Scherz sein?«
»Ist dir lieber, ich ermittle ohne Auftrag? Du weißt, dass ich das
tun würde.«
De Michelis überlegte kurz. »Irgendwann wirst du mir das alles
erklären, versprochen? Damit ich mich nicht länger wie ein Idiot fühle, dass
ich dir einen solchen Vertrauensvorschuss gebe.«
»Versprochen.«
»Gut, ich faxe dir den Befehl in einer Stunde ins Präsidium in Rom.
Ich muss mir eine glaubwürdige Begründung ausdenken, aber mir wird schon was
einfallen. Schließlich habe ich viel Phantasie.«
Dann legte er auf. Sandra war wieder im Spiel. Sie riss die Zugfahrkarte,
die Schalber ihr anstelle der Fotohinweise hinterlassen hatte, in winzige
Stücke und verstreute sie überall in der Wohnung. Sie war fest davon überzeugt,
dass sie sich nie wiedersehen würden, und es tat ihr weh. Sie vermied es, daran
zu denken, und überlegte, was sie als Nächstes tun musste: Sie würde zum
Präsidium gehen und den Dienstbefehl abholen. Anschließend würde sie sich die
Akte zum Fall Jeremiah Smith geben lassen. Sie würde sie genauestens durchlesen
und sich auf ihre Intuition verlassen. Denn wenn sich die Pönitenziare für
diesen Fall interessierten, war er alles andere als abgeschlossen.
8 Uhr 01
Marcus saß an einem der langen Tische der Caritas-Mensa.
An den Wänden hingen Kreuze und Poster mit Bibelzitaten. Ein penetranter Geruch
nach Brühe und Frittierfett breitete sich im Refektorium aus. Um die Zeit am
Vormittag waren die Obdachlosen, die regelmäßig hierherkamen, schon längst
gegangen. In der Küche wurde bereits das Mittagessen vorbereitet. Zum Frühstück
stand man hier normalerweise schon ab fünf Schlange. Um sieben waren alle
wieder draußen, außer es regnete oder war kalt. Marcus wusste, dass sich viele
von ihnen nicht mehr lange in geschlossenen Räumen aufhalten konnten und jede
Unterbringung ablehnten. Selbst wenn es nur für eine Nacht war. Das galt vor
allem für die, die eine Weile im Gefängnis oder in der Psychiatrie verbracht
hatten. Der vorübergehende Freiheitsentzug hatte dazu geführt, dass sie sich im
normalen Leben nicht mehr zurechtfanden.
Hier hieß Don Michele Fuente sie mit einem aufrichtigen Lächeln
willkommen und versorgte sie mit warmen Mahlzeiten und menschlicher Wärme.
Marcus sah zu, wie er seinen Mitarbeitern Anweisungen gab, damit sie auf den
erneuten Ansturm Verzweifelter vorbereitet waren, der ihnen in wenigen Stunden
bevorstand. Im Vergleich zu diesem Priester und seiner Mission fühlte er sich
nur wie ein halber Geistlicher.
Als Don Michele einen Moment Zeit hatte, setzte er sich Marcus
gegenüber. »Padre Clemente hat mir Ihren Besuch angekündigt. Er hat nur gesagt,
dass Sie ebenfalls Priester sind und dass ich Sie nicht nach Ihrem Namen fragen
soll.«
»Wenn es Ihnen nichts ausmacht, dann …«
»Es macht mir nichts aus!«, beruhigte ihn der Priester. Er war
untersetzt, hatte rote Pausbacken und einen Talar voller Krümel und
Fettflecken. Er war um die fünfzig, hatte kleine Hände und ungekämmtes Haar. Er
trug eine schwarze runde Brille, abgelaufene Nike-Turnschuhe und eine
Plastikuhr, auf die er immer wieder blickte.
»Sie haben vor drei Jahren jemandem die Beichte abgenommen«, sagte
Marcus.
»Nun, ich habe so einige Beichten abgenommen.«
»An diese dürften Sie sich noch erinnern können. Man spricht nicht
jeden Tag mit einem Selbstmordkandidaten.«
Don
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