Der Seelensammler
war es einfacher, Auffälligkeiten zu
erkennen. Die scheinbare Ordnung, die dieser Ort ausstrahlte, machte alles nur
komplizierter. Sie war eine Herausforderung, der er ganz anders begegnen
musste. Er musste sich in Alberto Canestrari hineinversetzen.
Was ist mir am wichtigsten?, fragte er sich. Der Ruhm reizt mich,
ist aber kein Muss. Leider wird man nicht dadurch populär, dass man Leben
rettet oder als Wohltäter auftritt. Der Beruf also. Doch meine Begabung ist für
andere wichtiger als für mich. Das ist es also auch nicht, was mir wirklich am
Herzen liegt.
Die Lösung kam wie angeflogen, noch während Marcus die Wand
musterte, die den Arzt feierte. Der gute Name! Der war wirklich wichtig. Mein
Ruf ist mein kostbarster Besitz.
Weil ich davon überzeugt bin, ein guter Mensch zu sein.
Marcus setzte sich in Canestraris Sessel, stützte das Kinn in die
Hand und stellte sich die eine, wesentliche Frage.
Wie kann ich mich umbringen und alle Welt glauben machen, dass ich
eines natürlichen Todes gestorben bin?
Das, wovor sich der Chirurg am meisten fürchtete, war ein Skandal.
Nie hätte er zugelassen, dass sein Ruf besudelt wurde. Deshalb musste er sich
etwas ausdenken. Marcus war sich sicher, der Lösung des Rätsels ganz nah zu
sein.
Sie befindet sich in Reichweite!, dachte er. Dann drehte er den
Sessel so, dass er das Bücherregal im Blick hatte.
Einen natürlichen Tod zu simulieren, durfte für jemanden, der mit
den Geheimnissen des Lebens vertraut war, nicht allzu schwer sein. Bestimmt gab
es da eine ganz einfache, über jeden Verdacht erhabene Methode. Und
anschließend würde niemand ermitteln, niemand nachhaken: Immerhin war hier ein
hoch angesehener Mann gestorben.
Marcus stand auf und begann, sich die Titel der Bücher anzusehen. Er
brauchte eine Weile, bis er fand, was er suchte.
Es handelte sich um ein Lexikon der Gifte und verzeichnete solche,
die in der Natur vorkamen, aber auch künstlich hergestellte.
Marcus blätterte es durch und überflog die Einträge zu Arsen und
Antimon, Belladonna und Nitrobenzin, Phenacetin und Chloroform. Er informierte
sich über die tödliche Dosis der Wirkstoffe, ihre Anwendungsgebiete und Nebenwirkungen.
Bis er auf den Eintrag stieß, der ihm die Antwort lieferte.
Succinylcholin.
Ein Muskelrelaxans, das für Narkosezwecke benutzt wurde.
Canestrari war Chirurg, somit durfte es ihm bestens bekannt gewesen
sein. In dem Lexikoneintrag wurde es als eine Art synthetisches Curare-Gift
beschrieben, da es die Patienten für die Dauer des Eingriffs lähmte und dadurch
gefährliche Zuckungen oder unwillkürliche Bewegungen verhinderte.
Während Marcus sich die Eigenschaften des Mittels durchlas, gelangte
er zu dem Schluss, dass Canestrari eine Dosis von einem Milligramm genügt haben
musste, um seine Atemmuskulatur zu lähmen. Nach wenigen Minuten war er
erstickt. Ihm selbst mussten sie wie eine Ewigkeit vorgekommen sein – ein grausamer
Tod, keiner, um den man ihn beneidete. Aber dafür sehr effizient, da die
Lähmung unwiderruflich war. Hatte er sich den Wirkstoff erst einmal gespritzt,
gab es keinen Weg zurück.
Aber der Chirurg hatte ihn auch noch aus einem anderen Grund
ausgewählt.
Marcus staunte, dass die Haupteigenschaft von Succinylcholin die
war, dass es sich toxikologisch nicht nachweisen ließ. Ganz einfach, weil es
aus Succinyl und Cholin bestand – beides Substanzen, die ganz natürlich im
Körper vorkamen. Somit würde es keine Zweifel an einem natürlichen Tod geben.
Kein Gerichtsmediziner würde auf die Idee kommen, nach einer winzigen
Einstichstelle zu suchen, beispielsweise zwischen den Zehen.
Damit war der gute Ruf gerettet.
Tja … aber was war mit der Spritze?, dachte Marcus. Wo war sie geblieben?
Marcus nahm sich vor, dem auf den Grund zu gehen. Als er auf
Clementes Dossier gewartet hatte, hatte er im Internet gelesen, dass eine
Arzthelferin die Leiche des Chirurgen gefunden hatte, und zwar frühmorgens,
kurz bevor die Praxis aufmachte. Vielleicht hatte sie den peinlichen Beweis für
einen unnatürlichen Tod verschwinden lassen.
Aber darauf hatte sich Canestrari nicht verlassen können, dachte
Marcus. Er musste fest davon ausgegangen sein, dass jemand die Spritze
beseitigen würde. Warum?
Marcus sah sich in dem Zimmer um, in dem sich der berühmte Mediziner
umgebracht hatte. Die Praxis war sein Lebensmittelpunkt gewesen. Aber das war
nicht der Grund, warum er sie als Todesort ausgewählt hatte, sondern weil er
sich sicher sein konnte,
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