Der Seelensammler
Michele wirkte nicht weiter überrascht, strahlte jedoch keine
Herzlichkeit mehr aus. »Ich habe den Wortlaut der Beichte ordnungsgemäß notiert
und sie an die Pönitenziarie weitergeleitet. Ich konnte ihn nicht von seinen
Sünden freisprechen, denn was er mir gebeichtet hat, war furchtbar.«
»Ich habe die Zusammenfassung gelesen, würde die Sache aber gern
noch mal aus Ihrem Mund hören.«
»Warum?« Die Frage klang flehend, der Priester wollte nur ungern
darüber sprechen.
»Es ist wichtig für mich, dass ich mir einen unmittelbaren Eindruck
verschaffe. Ich muss sämtliche Nuancen dieser Unterredung kennen.«
Don Michele schien sich einen Ruck zu geben. »Es war elf Uhr abends,
wir wollten gerade schließen. Ich weiß noch, dass mir der Mann aufgefallen war,
weil er schon den ganzen Abend auf der gegenüberliegenden Straßenseite gestanden
hatte. Er schien all seinen Mut zusammennehmen zu müssen, um hereinzukommen.
Nachdem der letzte Gast die Mensa verlassen hatte, rang er sich endlich dazu
durch. Er kam direkt auf mich zu und bat mich, ihm die Beichte abzunehmen. Ich
hatte ihn noch nie zuvor gesehen. Er trug einen dicken Mantel und einen Hut und
legte beides nicht ab, so als hätte er es eilig. Auch unser Gespräch fand in
aller Eile statt. Er suchte weder Trost noch Verständnis, sondern wollte sich
nur von dieser Last befreien.«
»Und was hat er genau gesagt?«
Der Priester kratzte sich den grauen, ungepflegten Bart. »Ich
begriff sofort, dass er eine Verzweiflungstat im Sinn hatte: Gestik und Stimme
wirkten gequält, er meinte es ernst. Der Mann wusste, dass es für das, was er
vorhatte, keine Vergebung gibt. Aber er war nicht gekommen, um um Vergebung für
eine Sünde zu bitten, die er noch gar nicht begangen hatte.« Der Priester
schwieg einen Moment. »Er bat nicht um Vergebung für seine Selbstmordabsichten,
sondern für einen Mord.«
Don Michele Fuente war Straßenpriester und kam als solcher ständig
mit den weniger schönen Seiten des Lebens in Berührung. Dennoch konnte Marcus
sein Unbehagen in diesem Fall gut verstehen, schließlich war ihm eine Todsünde
anvertraut worden. »Wen hatte er getötet und warum?«
Der Priester nahm die Brille ab und putzte sie mit seinem Talar.
»Das hat er mir nicht gesagt. Als ich ihn danach fragte, wich er mir aus und
meinte, es sei besser, ich wisse nichts davon, um nicht in Gefahr zu geraten.
Er wollte nur, dass ich ihm die Absolution erteile. Als ich ihm sagte, dass mir
das als einfacher Priester wegen der Schwere seiner Schuld verwehrt sei, traf
ihn das schwer. Er bedankte sich und verschwand ohne ein weiteres Wort.«
So knapp und unkonkret diese wenig aufschlussreiche Zusammenfassung
auch war – mehr stand Marcus nicht zur Verfügung.
Beichten von Mördern wurden von der Pönitenziarie separat
aufbewahrt. Als er das erste Mal im Archiv gewesen war, hatte ihn Clemente
gewarnt: »Vergiss nicht, dass das, was du hier liest, kein Verhörprotokoll aus
einer Polizeidatenbank ist. Dabei gewährt die Objektivität noch einen gewissen
Schutz. Bei uns ist die Beschreibung des Tathergangs rein subjektiv,
schließlich kennen wir ihn nur aus der Perspektive des Mörders. Manchmal
identifiziert man sich sogar mit ihm. Lass nicht zu, dass dich das Böse an der
Nase herumführt! Vergiss nicht, dass es nur eine Illusion ist, denn sonst kann
es gefährlich werden.« Als Marcus sich die Beichten durchgelesen hatte, staunte
er über die Details. Jede dieser Schilderungen enthielt etwas, was mit der Tat
selbst nichts zu tun haben schien: Ein Mörder erinnerte sich beispielsweise an
die roten Schuhe seines Opfers, und auch das hatte der Priester aufgeschrieben.
Dieses Detail war völlig irrelevant und würde keinerlei Einfluss auf das Urteil
haben. Trotzdem wirkte es inmitten all der furchtbaren Gewalttaten wie eine Art
Fluchtweg, eine Art Notausgang. Rote Schuhe: Für einen kurzen Moment unterbrach
ein Farbfleck den Erzählfluss und erlaubte dem Leser, wieder zu Atem zu kommen.
In Don Micheles Zusammenfassung fehlte so ein Detail. Daher vermutete Marcus,
dass der Priester nicht alles gesagt hatte. »Sie wissen, wer der Beichtende
war, stimmt’s?«
Der Priester zögerte eine Idee zu lange, und Marcus war sich nun
sicher, dass er sich nicht getäuscht hatte. »Ich habe ihn ein paar Tage später
in der Zeitung gesehen.«
»Aber als Sie die Beichte weitergeleitet haben, haben Sie seinen
Namen nicht eingefügt.«
»Ich habe mich mit dem Bischof beraten, der der Ansicht
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