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Der Seelensammler

Der Seelensammler

Titel: Der Seelensammler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donato Carrisi
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Tag, fühlte sich alles ganz anders an als gestern im Bett. Ohne
Rücksicht auf persönliche Schamgefühle drang die Sonne durch die Rollläden und
beleuchtete ihre auf dem Boden verstreute Unterwäsche, ihre Kleider, die am
Fußende zusammengeknautschte Bettdecke und ihren nackten Körper.
    »Ich bin nackt«, sagte sie leise vor sich hin, so als würde ihr das
erst in diesem Moment richtig klar.
    Zuerst gab sie dem Wein die Schuld. Doch das allein war keine
Erklärung. Frauen haben nie einfach nur so Sex, dachte sie. Männer schon:
Sobald sie Gelegenheit dazu haben, greifen sie zu. Frauen brauchen eine gewisse
Vorbereitungsphase. Sie wollen gepflegt sein, gut riechen. Selbst wenn es so
aussieht, als hätten sie einen spontanen One-Night-Stand, haben sie ihn in
Wirklichkeit geplant. Obwohl Sandra nicht ahnen konnte, dass ihr eine solche
Begegnung bevorstand, hatte sie sich nie gehen lassen. Sie hatte immer auf ihr
Äußeres geachtet.
    Doch jetzt schämte sich Sandra. Was, wenn Schalber dachte, sie sei
leicht zu haben? Sie fürchtete sich vor seinem Urteil. Aber nicht ihretwegen,
sondern wegen David. Hatte Schalber Mitleid mit ihm, weil er herausgefunden
hatte, wie bereitwillig seine Witwe mit einem anderen ins Bett gegangen war?
    Plötzlich merkte sie, dass sie nach einem Grund suchte, Schalber zu
hassen. Dabei war er so einfühlsam gewesen, so sanft. Von einem Ausbruch
spontaner Leidenschaft konnte keine Rede sein. Rein äußerlich hatte er ihr von
Anfang an gefallen. Vielleicht war sie deshalb so wütend. Es war so klischeehaft:
Was sich neckt, das liebt sich. Sie kam sich vor wie fünfzehn. Jetzt fehlte nur
noch, dass sie den Neuen mit David verglich. Das war alles völlig lächerlich.
Also schob sie ihre Gedanken beiseite und überwand sich, endlich aufzustehen.
Sie hob ihre Unterwäsche auf und schlüpfte hastig hinein, bevor Schalber aus
der Dusche kam.
    Sie setzte sich aufs Bett und wartete, dass das Bad frei würde.
Unter dem warmen Wasserstrahl würde sie wieder zu sich kommen.
    Sie liebte David immer noch. Dabei lag die Betonung auf »noch«.
Schon seit einiger Zeit hatte sich dieses Wörtchen heimlich in ihre Gedanken an
David eingeschlichen und damit vorweggenommen, was irgendwann zwangsläufig
passieren würde: Alles ändert sich, alles verwandelt sich, und irgendwann
würden sich auch ihre Gefühle ändern. Was würde sie wohl in zwanzig, dreißig
Jahren für David empfinden? Sie war jetzt neunundzwanzig Jahre alt und würde
ihren Lebensweg fortsetzen, obwohl seiner zu Ende war. Sie würde immer zurückblicken,
doch ihr Mann würde immer kleiner werden. Ihre gemeinsame Zeit war intensiv
gewesen, aber nicht lange genug, wenn man bedachte, wie viel Zeit noch vor ihr
lag. Sie war eine Witwe, aber noch längst nicht zu alt, sich einem Mann
hinzugeben.
    Sie hatte Angst, David zu vergessen. Deshalb klammerte sie sich so
verzweifelt an ihre Erinnerungen. David und sie hatten sich oft geliebt, aber
zweimal war es etwas ganz Besonderes gewesen.
    Das allererste Mal, nach ihrer dritten Verabredung, im Auto auf dem
Weg nach Hause. Sie hatten am Straßenrand gehalten und waren auf dem Rücksitz
übereinander hergefallen, so als hätten sie geahnt, dass ihre gemeinsame Zeit begrenzt
war.
    Das zweite Mal, wenige Monate bevor ihr Mann ermordet wurde, war in
vierlerlei Hinsicht nicht anders gewesen als sonst. Sie hatten so ihre Rituale,
die vorsahen, dass sie sich den ganzen Abend lang Komplimente machten. Sie ließ
zu, dass er ihr immer näher kam, schob die Belohnung aber immer weiter hinaus.
Das war nicht nur irgendein Spielchen, um das Liebesleben aufregender zu
gestalten, sondern ihre Art, ein Versprechen zu bekräftigen: das Versprechen,
dass sie sich nie als selbstverständlich betrachten würden.
    An jenem Tag war etwas vorgefallen. David war von einer monatelangen
Reise zurückgekehrt und konnte nicht ahnen, was in seiner Abwesenheit geschehen
war. Und sie hatte sich nicht das Geringste anmerken lassen. Sie hatte einfach
das Ritual befolgt, das damit endete, dass sie sich liebten.
    Sie hatte nie darüber geredet, mit niemandem. Sie verbat sich sogar,
daran zu denken. David hatte nie davon erfahren, denn hätte sie es ihm
gebeichtet, hätte er sie verlassen, davon war sie überzeugt. Es gab ein Wort
für ihre Schuld, doch sie hatte es nie ausgesprochen.
    »Es war eine Sünde«, sagte sie nun zu sich selbst. Dann warf sie
einen Blick auf die geschlossene Badezimmertür. Und letzte Nacht?, fragte sie
sich. Wie

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