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Der Seelensammler

Der Seelensammler

Titel: Der Seelensammler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donato Carrisi
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war, ich
solle ihn weglassen.«
    »Warum?«
    »Weil ihn alle für einen guten Menschen gehalten haben«, sagte der
Priester lapidar. »Er hat in Angola ein großes Krankenhaus gebaut, in einem der
ärmsten Länder der Welt. Der Bischof hat mich überzeugt, dass es nichts bringt,
das Andenken eines großen Wohltäters zu beschmutzen. Stattdessen sollte er
weiterhin als Vorbild gelten. Uns stehe es schließlich nicht zu, über ihn zu
richten.«
    »Wie hieß er?«, hakte Marcus nach.
    Der Priester seufzte. »Alberto Canestrari.«
    Er spürte, dass der Priester noch mehr wusste, wollte aber nicht
weiter in ihn dringen. Er musterte ihn schweigend und wartete, dass er von sich
aus mehr sagte.
    »Da wäre noch etwas«, fügte Don Michele kleinlaut hinzu. »In den
Zeitungen stand, er wäre eines natürlichen Todes gestorben.«
    Alberto Canestrari war nicht nur ein weltberühmter Chirurg
gewesen, ein Vorzeigemediziner und Vorreiter seiner Zunft: Er war vor allem ein
Menschenfreund.
    Das sah man an den Verdienstorden, die in seiner Praxis in der Via
Ludovisi an den Wänden hingen, aber auch an dem, was in den gerahmten
Zeitungsartikeln stand. Sie handelten von seinen zahlreichen Erfindungen, mit
denen er die Chirurgietechnik vorangetrieben hatte, oder priesen seine Großzügigkeit,
weil er sein Können auch Dritteweltländern zur Verfügung gestellt hatte.
    Sein größtes Vermächtnis war der Bau eines riesigen Krankenhauses in
Angola, in dem er höchstpersönlich operierte.
    Dieselben Zeitungen, die ihn gefeiert hatten, brachten auch die
Nachricht von seinem plötzlichen Tod aus natürlicher Ursache.
    Marcus hatte sich in die einstige Praxis eingeschlichen. Sie lag im
dritten Stock eines vornehmen Palazzo, in direkter Nähe der Via Veneto. Er
musterte kurz die Hinterlassenschaften und das lächelnde Gesicht des
fünfzigjährigen Arztes auf den üblichen Fotos, die ihn mit verschiedenen Prominenten,
aber auch mit Patienten zeigten. Viele davon waren Afrikaner, die ihm ihre
Genesung und in einigen Fällen sogar das Leben verdankten. Sie waren seine
große Familie. Da er sich ganz seinem Beruf verschrieben hatte, war der Chirurg
nicht verheiratet gewesen.
    Hätte Marcus den Mann anhand dieser Anhäufung lobender Adjektive
beurteilen müssen, hätte er ihn zweifellos als guten Christenmenschen bezeichnet.
Aber das konnte auch nur Fassade sein: Aus Erfahrung wusste er, dass man nicht
vorschnell urteilen durfte – und schon gar nicht angesichts dessen, was der
Chirurg kurz vor seinem Tod bei seiner letzten Beichte gesagt hatte.
    Die Öffentlichkeit wusste nicht, dass Alberto Canestrari Selbstmord
begangen hatte.
    Marcus konnte sich nicht vorstellen, dass dem angekündigten
Selbstmord ein natürlicher Tod gefolgt war. Da steckt etwas anderes dahinter!,
dachte er.
    Die Praxis bestand aus einem großen Warteraum, einer Rezeption und
aus einem Zimmer mit einem großen Mahagonischreibtisch und edel eingebundenen
Medizinbüchern in Regalen an den Wänden. Eine Schiebetür verbarg einen kleinen
Untersuchungsraum, der eine Liege, medizinische Instrumente und einen Schrank
mit Arzneimitteln enthielt. Doch zuerst sah sich Marcus im Sprechzimmer um.
Dort standen Ledersofas und der Drehsessel, in dem der Chirurg, den Medien
zufolge, tot aufgefunden worden war.
    Warum bin ich hier?, fragte er sich.
    Wenn dieser Mann tatsächlich gemordet hatte, war die Sache längst
erledigt, und Marcus hätte sich eigentlich nicht mehr damit beschäftigen
müssen: Der Mörder war tot, sodass der geheimnisvolle Pönitenziar keine
Vergeltungsaktion mehr in die Wege leiten konnte. Aber wenn er ihn bis hierher geführt
hatte, musste an diesem Ort eine wichtige Wahrheit zu finden sein.
    Eins nach dem anderen!, ermahnte sich Marcus. Zunächst einmal musste
er sich an die Fakten halten, und das Erste, was auffiel, war der Selbstmord.
    Canestrari hatte weder Frau noch Kinder. Nach seinem Tod war ein
Erbstreit zwischen seinen Nichten und Neffen entbrannt. Deshalb war die Praxis,
um die ebenfalls gestritten wurde, in den letzten drei Jahren unangetastet
geblieben. Sämtliche Fenster waren verriegelt, und jeder Einrichtungsgegenstand
war von einer dicken Staubschicht bedeckt. Von dem gleichen Staub, der in dem
Licht schwebte, das durch die Fensterläden fiel. Obwohl der Ort unverändert
war, wirkte er nicht wie ein Tatort. Fast sehnte sich Marcus nach einem
richtigen Verbrechensschauplatz voller Spuren, denen man nachgehen konnte. In
dem Chaos, das das Böse anrichtete,

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