Der Seelensammler
kann man nicht eifersüchtig sein, dachte
sie. Nicht mehr.
»War er der Meinung, dass sie einen anderen hat?«
»Kann sein, wer weiß das schon?« De Michelis zuckte mit den
Schultern und wechselte dann das Thema. »Wie weit seid ihr mit dem Bad?«
»Ich habe die erste Kamera aufgebaut, sie macht bereits Panoramafotos.
Ich warte, bis sie damit fertig ist und Sergi mich ruft.«
»Es ist nicht das, wonach es aussieht …«
Sandra musterte De Michelis. »Was soll das heißen?«
»Der Mann hat sich nicht erschossen. Wir haben die Patronenhülsen
gezählt: Die liegen alle in der Küche.«
»Was ist also passiert?«
De Michelis betrat das Zimmer und nahm dabei die Zigarette aus dem
Mund. »Der Typ hat geduscht. Dann ist er nackt in den Flur, hat die Pistole
genommen, die er dort neben der Uniform aufbewahrt hat, ist in die Küche
gegangen – ungefähr dahin, wo du gerade stehst – und hat seinen Sohn
erschossen. Ein Genick- und ein Streifschuss.« Er stellte die Tat nach. »Anschließend
hat er die Frau abgeknallt. Nach wenigen Sekunden war alles vorbei. Er ist ins
Bad zurückgekehrt, auf dem glatten Boden ausgerutscht und mit dem Kopf gegen
das Waschbecken gekracht. So heftig, dass sein Schädel gebrochen ist. Er war
auf der Stelle tot.« Nach einer Pause fügte der Ispettore noch zynisch hinzu:
»Manchmal ist Gott wirklich großzügig in Sachen Rache.«
Mit Gott hat das hier rein gar nichts zu tun, dachte Sandra und warf
einen Blick auf den Jungen. Der hatte seine Augen eindeutig woanders gehabt.
»Um zwanzig nach sieben war bereits alles vorbei.«
Mit einem mulmigen Gefühl kehrte sie ins Bad zurück. De
Michelis’ Worte hatten sie mehr mitgenommen, als sie sich eingestehen wollte.
Kaum hatte sie die Tür geöffnet, wurde sie von dem Dampf eingehüllt, der das
Zimmer füllte. Sergi hatte den Wasserhahn inzwischen wieder zugedreht und
kniete vor dem Koffer mit den Reagenzien.
»Blaubeeren! Diese Blaubeeren machen doch jedes Mal Probleme.«
Sandra verstand nicht, worauf der Techniker anspielte. Er wirkte
hoch konzentriert, und sie beschloss, nicht nachzufragen, weil sie ihn nicht
verärgern wollte. Sie sah nach, ob die Kamera die Panoramaaufnahmen gemacht
hatte, und schraubte sie vom Stativ.
Bevor sie wieder ging, wandte sie sich doch noch an den Kollegen:
»Ich wechsle nur schnell die Speicherkarte und beginne dann mit den
Detailaufnahmen.« Sie sah sich um. »Es gibt keine Fenster, und das Kunstlicht
wird vermutlich nicht ausreichen. Wir brauchen also ein paar Niedrigvoltlampen,
oder was meinst du?«
Sergi sah zu ihr auf: »Was ich dazu meine? Dass ich mich gern
durchficken lassen würde wie eine Rockerbraut. Das wäre jetzt genau das
Richtige.«
Sergis Vulgarität widerte sie an. Wenn das ein Witz gewesen war,
verstand sie nicht, was daran komisch sein sollte. Aber so, wie er sie ansah,
schien er nicht auf einen Lacher zu warten. Gleich darauf kümmerte sich der
Techniker wieder um seine Reagenzien, als wäre nichts gewesen, und Sandra ging
in den Flur.
Sie versuchte, das dumme Gequatsche ihres Kollegen zu vergessen, und
sah sich die Fotos auf dem Kameradisplay an. Die Panoramaaufnahmen aus dem Bad
waren ganz gut geworden. Die Kamera hatte sechs Stück geschossen, in einem
Abstand von jeweils drei Minuten. Der Dampf hatte die Fußabdrücke des Täters
sichtbar gemacht, doch sie ergaben ein ziemlich wirres Bild. Eigentlich hatte
sie gedacht, dass der Streit, der letztlich zu dem Blutbad geführt hatte, im
Bad begonnen hatte. Aber dann hätten dort auch Pantoffelspuren der Frau zu
sehen sein müssen.
Sandra verstieß gegen eine der Regeln aus dem Polizeihandbuch. Sie
suchte nach einer Erklärung. Doch egal, wie absurd dieses Massaker auch war:
Sie musste einfach nur Tatsachen festhalten. Dabei spielte es überhaupt keine
Rolle, ob sie für sie einen Sinn ergaben oder nicht. Ihr Job bestand darin,
objektiv zu bleiben.
Nur war ihr das in den letzten fünf Monaten immer schwerer gefallen.
Nachdem sie das Allgemeine dokumentiert hatte, widmete sich Sandra
dem Besonderen. Sie zoomte die Details heran und versuchte, sie zu
interpretieren.
Auf dem Display war die Rasierklinge auf der Konsole unter dem
Spiegel zu sehen. Der Winnie-the-Pooh-Badezusatz. Die zum Trocknen aufgehängten
Seidenstrümpfe. Alltägliche Verrichtungen, banale Angewohnheiten einer ganz
normalen Familie. Lauter unschuldige Gegenstände, die etwas Furchtbares mitangesehen
hatten.
Dabei sind Gegenstände alles andere als stumm,
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