Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Seelensammler

Der Seelensammler

Titel: Der Seelensammler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donato Carrisi
Vom Netzwerk:
dachte Sandra. Ihr
Schweigen kann sehr beredt sein, man muss ihnen nur zuhören.
    Während sie ein Bild nach dem anderen anklickte, überlegte sie, was
zu dem Gewaltausbruch geführt haben konnte. Das mulmige Gefühl von vorhin hatte
sich sogar noch verschlimmert. Zu allem Überfluss kündigte sich jetzt eine Migräne
an. Einen kurzen Moment lang nahm sie alles nur noch verschwommen wahr. Sie
wollte verstehen.
    Wie war es zu dieser häuslichen Apokalypse gekommen?
    Die Familie steht kurz vor sieben auf. Die Frau macht dem Sohn das
Frühstück. Der Mann geht zuerst ins Bad, er muss den Jungen zur Schule bringen
und dann zur Arbeit gehen. Es ist kalt, deshalb nimmt er den Gasheizkörper mit.
    Was war da nur passiert, als er unter der Dusche stand?
    Das Wasser rauscht, die Wut steigt. Vielleicht hat er die ganze
Nacht wach gelegen, dachte Sandra. Irgendein Gedanke hat ihn gequält, eine fixe
Idee. Eifersucht? Hat er entdeckt, dass seine Frau einen Liebhaber hat? Laut De
Michelis hatte das Paar oft Streit.
    Aber nicht an diesem Morgen. Warum?
    Der Mann kommt aus der Dusche, nimmt die Pistole und geht in die
Küche. Kein Wort fällt, bevor er schießt. Welche Sicherung ist da bei ihm
durchgebrannt? Beklemmungen, Angst, Panik: die üblichen Symptome vor einem
Wutanfall.
    Auf dem Display erscheinen drei Bademäntel, sie hängen der Größe
nach nebeneinander. Eine dreiköpfige Zahnbürstenfamilie in einem Wasserglas.
Sandra suchte nach dem Riss in der Fassade, nach dem winzigen Sprung, der zu
dem Zusammenbruch geführt hatte.
    Um zwanzig nach sieben war bereits alles vorbei, hatte der Ispettore
gesagt. Um diese Uhrzeit hören die Nachbarn die Schüsse und rufen die Polizei.
Das Duschen dauert höchstens eine Viertelstunde. Innerhalb einer Viertelstunde
hat sich alles entschieden.
    Auf dem Kameradisplay erscheint das Aquarium mit den zwei
Schildkröten. Die Schachtel mit dem Futter. Die Plastikpalme. Die Steinchen.
    Die Schildkröten!, murmelte Sandra leise vor sich hin.
    Sie überprüfte sämtliche Panoramaaufnahmen und zoomte stets dieses
Detail heran. Alle drei Minuten ein Foto, sechs Aufnahmen insgesamt: Sergi
hatte das warme Wasser bis zum Anschlag aufgedreht, der Raum hatte sich mit
Dampf gefüllt … und trotzdem hatten sich die Schildkröten nicht von der Stelle
gerührt.
    Gegenstände konnten reden. Der Tod steckte im Detail.
    Und wieder verschwamm alles vor Sandras Augen, kurz hatte sie sogar
Angst, ohnmächtig zu werden. Sie sah, wie De Michelis in den Flur kam.
    »Geht es dir nicht gut?«
    Auf einmal war Sandra alles klar: »Der Gasheizkörper.«
    »Wie bitte?« De Michelis verstand nicht. Aber sie hatte keine Zeit
für Erklärungen. »Sergi! Wir müssen ihn da sofort rausholen!«
    Vor dem Gebäude stand ein Feuerwehrauto, ein Krankenwagen
fuhr gerade mit Sergi davon. Der Spurensicherungstechniker hatte schon längst
das Bewusstsein verloren, als sie das Bad betraten. Zum Glück waren sie gerade
noch rechtzeitig gekommen. Auf dem Bürgersteig vor dem Haus zeigte Sandra De
Michelis das Foto von dem Aquarium mit den toten Schildkröten und versuchte,
die Ereignisse zu rekonstruieren.
    »Als wir gekommen sind, hat Sergi gerade versucht, den Gasheizkörper
in Gang zu bringen.«
    »Es hat nicht viel gefehlt, und der Idiot wäre uns hopsgegangen! Das
Bad hat keine Fenster. Laut den Feuerwehrleuten war es voller Kohlenmonoxid.«
    »Sergi hat den Tathergang nachgestellt. Überleg doch mal: Genau das
Gleiche ist heute Morgen passiert, als der Mann unter der Dusche stand.«
    De Michelis runzelte die Stirn. »Das verstehe ich nicht.«
    »Kohlenmonoxid entsteht bei der unvollständigen Verbrennung von
kohlestoffhaltigen Stoffen. Man kann es weder riechen noch sehen noch schmecken.«
    »Das ist mir bekannt … aber löst es auch Schüsse aus?«, scherzte der
Ispettore.
    »Du kennst doch die Symptome einer Kohlenmonoxidvergiftung:
Kopfschmerzen, Schwindel, manchmal auch Halluzinationen und Wahnvorstellungen …
Nachdem Sergi dem Gas im Bad ausgesetzt gewesen war, hat er wirres Zeug
geredet. Er hat was von Blaubeeren gefaselt und wurde ordinär.«
    De Michelis verzog das Gesicht zu einer Grimasse: Die Geschichte
gefiel ihm nicht. »Hör mal, Sandra, ich weiß, worauf du hinauswillst. Aber das
nimmt uns keiner ab!«
    »Auch der Familienvater war im Bad eingeschlossen, bevor er anfing,
um sich zu schießen.«
    »Das lässt sich nicht beweisen.«
    »Aber es ist immerhin eine Erklärung! Gib wenigstens zu, dass es so
gewesen sein

Weitere Kostenlose Bücher