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Der Seelensammler

Der Seelensammler

Titel: Der Seelensammler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donato Carrisi
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Vitalfunktionen an.
    In anderen Abteilungen war der Job, Leben zu retten, ein Wettlauf
mit der Zeit. Doch hier gingen die Uhren anders: Die Zeit zog sich so sehr in
die Länge, dass sie gar nicht mehr zu existieren schien. Nicht umsonst hieß
dieser Ort beim Personal nur die Grenze.
    »Manche entscheiden sich dafür, sie zu überschreiten. Andere kehren
wieder um«, sagte Clemente.
    Sie standen vor der Scheibe, die den Flur von einem Reanimationsraum
trennte. Darin standen sechs Betten.
    Nur eines davon war belegt.
    Ein etwa fünfzigjähriger Mann war an ein Beatmungsgerät
angeschlossen. Während Marcus ihn betrachtete, musste er daran denken, dass
sein Freund ihn in einem ganz ähnlichen Bett vorgefunden hatte. Auch er hatte
seine Schlacht geschlagen und zwischen Licht und Dunkel geschwebt.
    Er hatte sich fürs Umkehren entschieden.
    Clemente zeigte auf das, was sich hinter der Scheibe befand:
»Gestern Nacht wurde ein Rettungswagen zu einer abgelegenen Villa gerufen:
Dringlichkeitsstufe eins, Verdacht auf Herzinfarkt. Im Besitz des Mannes, von
dem der Notruf kam, befanden sich Gegenstände wie ein Haarband, ein Korallenarmband,
ein rosa Schuh und ein Rollschuh, die Opfern eines bisher nicht gefassten
Serienmörders gehört haben. Der Mann heißt Jeremiah Smith.«
    Jeremiah – war für ein schöner Name!, lautete Marcus’ erster
Gedanke. Er passte so gar nicht zu einem Serienmörder.
    Clemente zog eine Faltmappe aus der Innentasche seines Regenmantels,
auf der nur ein Aktenzeichen stand: c.g. 97-95-6.
    »Vier Opfer in sechs Jahren. Alle erwürgt. Allesamt Frauen zwischen
siebzehn und achtundzwanzig.«
    Während Clemente diese nüchternen, unpersönlichen Fakten aufzählte,
konzentrierte Marcus sich auf das Gesicht des Mannes. Er durfte sich nicht
davon täuschen lassen: Dieser Körper war nur eine Hülle, eine Tarnkappe.
    »Laut den Ärzten liegt er im Koma«, sagte Clemente, so als könnte er
Gedanken lesen. »Und das, obwohl er von den Rettungskräften sofort intubiert
wurde. Apropos Rettungskräfte …«
    »Wieso?«
    »Das Schicksal hat sich einen schlechten Scherz erlaubt: Zusammen
mit dem Krankenpfleger war die Schwester des ersten Opfers vor Ort: eine
siebenundzwanzigjährige Ärztin.«
    Marcus war überrascht. »Weiß sie, wem sie das Leben gerettet hat?«
    »Sie hat den Rollschuh gesehen, der ihrer vor sechs Jahren ermordeten
Schwester gehörte. Und das hat sie auch gemeldet. Aber es war auch sonst nicht
gerade ein Routineeinsatz …«
    Clemente zog ein Foto aus der Aktenmappe. Es zeigte den Brustkorb
des Mannes mit der Aufforderung »Töte mich!«.
    »Er ist mit dieser Tätowierung herumgelaufen.«
    »Sie beweist seine Doppelnatur«, stellte Marcus fest. »So als wollte
er uns sagen, dass man sich gar nicht groß anstrengen muss, um hinter die
Fassade zu schauen. Normalerweise beurteilen wir einen Menschen nur nach seinem
Äußeren, nach seinen Kleidern. Ist die Wahrheit jedoch in seine Haut geschrieben,
ist sie theoretisch für jedermann sichtbar – zwar unter der Kleidung verborgen,
aber doch ganz nah. Trotzdem nimmt sie niemand wahr. Für Jeremiah Smith galt
das Gleiche: Die Leute streiften ihn auf der Straße, ohne die Gefahr zu
bemerken. Niemand hat gewusst, wer er wirklich ist.«
    »Gleichzeitig sind diese Worte auch eine Herausforderung: Töte mich,
wenn du es schaffst!«
    Marcus wandte sich an Clemente: »Und was ist unsere
Herausforderung?«
    »Lara.«
    »Wer sagt denn, dass sie noch lebt?«
    »Er hat die anderen Opfer mindestens einen Monat lang am Leben
gelassen, bevor wir sie finden durften.«
    »Woher wissen wir, dass er der Entführer ist?«
    »Durch den Zucker: Die anderen Mädchen wurden ebenfalls betäubt. Er
hat bei allen genau die gleiche Methode angewandt: Er hat sie tagsüber unter
irgendeinem Vorwand angesprochen und auf ein Getränk eingeladen. Darin befand
sich stets GHB, besser bekannt als K.-o.-Tropfen – eine Vergewaltigungsdroge.
Ein Betäubungsmittel mit bewusstseinstrübender Wirkung, das einen willenlos
macht. Die Spurensicherung fand Rückstände der Substanz an einem Plastikbecher,
den Jeremiah zurückgelassen hat – und zwar dort, wo er sein erstes Opfer traf.
Und an einem Fläschchen, das bei der dritten Entführung aufgetaucht ist. Es ist
eine Art Signatur oder Handschrift.«
    »Eine Vergewaltigungsdroge«, wiederholte Marcus. »Er hat also rein
sexuelle Motive?«
    Clemente schüttelte den Kopf. »Es gibt keinerlei Anzeichen für
Sexualverbrechen, die Opfer weisen

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