Der Seelensammler
könnte: Der Mann atmet Kohlenmonoxid ein, wird davon geistig
verwirrt, bekommt Halluzinationen und Wahnvorstellungen. Er verliert nicht
gleich das Bewusstsein wie Sergi, sondern verlässt nackt das Bad, greift zur
Pistole und erschießt Frau und Kind. Anschließend kehrt er ins Bad zurück, wo
er aufgrund des Sauerstoffmangels das Bewusstsein verliert. Er stürzt und
bricht sich dabei den Schädel.«
De Michelis verschränkte die Arme vor der Brust, was Sandra auf die
Palme brachte. Dabei wusste sie ganz genau, dass der Ispettore eine dermaßen gewagte
These nicht gelten lassen durfte. Sie kannte ihn schon seit Jahren. Mit Sicherheit
würde auch er es tröstlich finden, wenn der wahre Grund für dieses absurde
Verbrechen nicht beim »Täter« zu suchen war. Dennoch, De Michelis hatte recht:
Die Beweise reichten nicht aus.
»Ich werde dem Gerichtsmediziner von deiner These erzählen und ihn
bitten, die Leiche toxikologisch zu untersuchen.«
Immerhin!, dachte Sandra. De Michelis ging sehr sorgfältig vor. Er
war ein guter Polizist, und sie arbeitete gern mit ihm zusammen. Er war
Kunstliebhaber, was schon mal auf eine gewisse Sensibilität schließen ließ.
Soweit sie wusste, hatte er keine Kinder. Im Urlaub besuchten er und seine Frau
gern Museen. Er bestand darauf, dass jedes Kunstwerk mehrere Bedeutungen hatte
und dass es die Aufgabe des Betrachters war, danach zu suchen. Deshalb gehörte
er nicht zu den Polizisten, die sich auf ihren ersten Eindruck verließen.
»Manchmal wünschen wir uns, dass die Dinge anders liegen. Wenn wir
sie schon nicht ungeschehen machen können, versuchen wir, sie auf unsere Art zu
erklären. Aber das funktioniert nicht immer.«
»Ja«, pflichtete ihm Sandra bei, bereute es allerdings sofort
wieder. Denn diese Bemerkung galt ihr, was sie auf gar keinen Fall zugeben
durfte. Sie wandte sich zum Gehen.
»Warte, ich wollte dir noch etwas sagen …« De Michelis fuhr sich mit
einer Hand durch das graue Haar und suchte nach den richtigen Worten. »Tut mir
leid, was dir zugestoßen ist. Ich weiß, dass das schon ein halbes Jahr her ist,
aber …«
»Ist schon okay!«, erwiderte sie und zwang sich zu einem Lächeln.
»Ich komm schon zurecht. Trotzdem danke.«
Sandra drehte sich um und lief rasch zu ihrem Wagen. Dabei hatte sie
dieses merkwürdige Gefühl in der Brust, das sie seitdem nie mehr verlassen
hatte und von dem niemand etwas ahnte: Angst, aber auch Wut, vermischt mit
Schmerz. Eine Art klebriger Kaugummikugel. Im Stillen nannte sie es nur »das
Ding«.
Sie gab es nur ungern zu, aber seit fünf Monaten ersetzte »das Ding«
ihr Herz.
11 Uhr 40
Und wieder strömte der Regen. Im Gegensatz zu den Leuten,
die ihnen entgegenkamen, hatten es Marcus und Clemente nicht eilig, als sie
über das Klinikgelände liefen. Die Gemelli-Klinik war das wichtigste
Krankenhaus der Stadt.
»Die Polizei überwacht den Haupteingang«, erklärte Clemente.
»Außerdem müssen wir auf die Überwachungskameras aufpassen.«
Er bog links ab, verließ dabei den Weg und führte Marcus zu einem
weißen Gebäude. Unter einem Schutzdach standen Behälter mit Putzmitteln und
Wagen mit schmutziger Bettwäsche. Eine Eisentreppe führte zum Personaleingang.
Die Tür stand offen, und es war nicht weiter schwer, ins Wäschelager
vorzudringen. Nachdem sie mit einem Lastenaufzug ins Erdgeschoss gefahren
waren, fanden sie sich in einem engen Gang wieder, der von einer Sicherheitstür
versperrt wurde. Bevor sie sie passierten, mussten sie sich sterile Kittel,
Masken und Schuhüberzieher anziehen, die sie einfach von einem Wagen nahmen.
Dann gab Clemente Marcus einen Magnetausweis. Wenn er den um den Hals trug,
würde ihm niemand unangenehme Fragen stellen. Sie benutzten ihn, um das
elektronische Schloss zu öffnen, und konnten endlich hinein.
Vor ihnen lag ein langer Flur mit hellblauen Wänden. Es roch nach
Desinfektions- und Putzmitteln.
Im Gegensatz zu den anderen Abteilungen war es auf der Intensivstation
vollkommen still. Hier gab es kein hektisches Hin und Her von Ärzten und
Pflegern, das Personal lief ohne jede Eile lautlos durch die Gänge. Die
einzigen Geräusche hier stammten von den Apparaten, von denen das Überleben der
Patienten abhing.
Und doch tobte an diesem friedlichen Ort eine erbitterte Schlacht um
Leben und Tod. Wenn einer der Kämpfer fiel, geschah das ohne Lärm und Geschrei.
Kein Alarm schrillte los, stattdessen blinkte nur ein rotes Lämpchen im Kontrollraum
und zeigte das Versagen von
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