Der Seelensammler
Berichte, Profile des Serienmörders und seiner
vier Opfer sowie sämtliche Tatortfotos. Wenn Sie eine Kopie davon haben wollen,
müssen Sie die extra anfordern. Diese Mappe brauche ich wieder.«
»Einverstanden. Ich werde sie nicht lange benötigen«, erwiderte
Sandra und nahm sie entgegen.
»Das wäre dann alles, oder? Sie dürfen sich hier frei bewegen. Ich
glaube nicht, dass Sie Begleitung brauchen.«
»Ich komme zurecht, danke.«
Der Commissario gab ihr Schuhüberzieher und Latexhandschuhe. »Gut,
also dann viel Spaß!«
»Ja, hier herumzulaufen, macht wirklich gute Laune!«
»Man kommt sich vor wie ein Kind, das auf einem Friedhof Verstecken
spielt.«
Sandra wartete, bis Camusso gegangen war. Dann griff sie zu ihrem
Handy, weil sie das Haus fotografieren wollte. Sie schlug die Mappe auf und
überflog den obersten Bericht. Darin stand, wie man auf den Serienmörder
gestoßen war. Sandra konnte kaum glauben, dass es sich tatsächlich so
abgespielt hatte.
Sie ging in das Zimmer, in dem das Rettungsteam den sterbenden
Jeremiah Smith gefunden hatte.
Mit dem Wohnzimmer war die Spurensicherung längst fertig, Sandra war
also allein. Sie sah sich um und versuchte, sich die Szene vorzustellen: Die
Rettungskräfte treffen ein und sehen den Mann am Boden liegen. Sie versuchen,
ihn wiederzubeleben, aber sein Zustand lässt es nicht zu. Sie stabilisieren
ihn, um ihn abtransportieren zu können, dabei bemerkt eine Person – die Ärztin
des Teams – einen Gegenstand im Zimmer.
Einen roten Rollschuh mit goldenen Schnallen.
Sie heißt Monica, und ihre Schwester fiel einem Serienmörder zum
Opfer, der seit sechs Jahren Mädchen entführt und tötet. Der Rollschuh hat
ihrer Zwillingsschwester gehört. Der andere steckte noch am Fuß der Leiche, als
sie gefunden wurde. Monica begreift, dass sie dem Mörder gegenübersteht. Der
Pfleger, der sie begleitet, kennt ihre Geschichte, wie alle im Krankenhaus.
Sandra wusste genau, wie so etwas lief, bei der Polizei war es genauso: Die
Kollegen werden zu einer Art Ersatzfamilie, denn nur so kann man das Leid und
die Ungerechtigkeit, mit der man jeden Tag konfrontiert wird, aushalten. Solche
Beziehungen gehen mit einem ganz eigenen Regelkodex einher, man verbrüdert sich
gewissermaßen.
Deshalb hätten Monica und der Pfleger zulassen können, dass Jeremiah
Smith einfach krepiert. Verdient hätte er es mit Sicherheit. Er befindet sich
in einem hoffnungslosen Zustand, niemand kann ihnen vorwerfen, nicht alles versucht
zu haben. Trotzdem beschließen sie, ihn am Leben zu erhalten. Besser gesagt, sie beschließt, ihn zu retten.
Sandra war sich sicher, dass es so gelaufen war. Und damit war sie
nicht die Einzige, auch wenn niemand daraüber sprach.
Das Schicksal war hier einen seltsamen Weg gegangen. Der Zufall
hatte dermaßen perfekt gewaltet, dass ein anderer Ablauf kaum denkbar war. So
etwas kann man unmöglich planen!, dachte Sandra. Trotzdem gab es Dinge, die für
sie keinen Sinn ergaben.
Jeremiah Smiths Tätowierung.
Auf seinem Brustkorb waren die Worte »Töte mich!« zu lesen. Die Akte
enthielt nicht nur ein Foto davon, sondern auch ein medizinisches Gutachten.
Darin stand, dass er sich die Tätowierung selbst beigebracht hatte, was auf
eine sadomasochistische Veranlagung schließen ließ. Gleichzeitig passte die
Aufforderung erstaunlich gut zu der Entscheidung, vor die Monica sich gestellt
sah.
Sandra machte ein paar Fotos vom Wohnzimmer. Von Jeremiah Smiths
Sessel, von der zerbrochenen Milchschale auf dem Boden, dem alten Fernseher.
Als sie damit fertig war, bekam sie einen klaustrophobischen Anfall. Sosehr sie
den Anblick von Gräueltaten gewohnt war – angesichts all dieser alltäglichen Gegenstände
erschien ihr der Tod unerträglich konkret und obszön.
Das Gefühl wurde so unerträglich, dass sie das Haus so schnell wie
möglich verlassen musste.
Es gibt Gegenstände, die die Toten noch an die Welt der
Lebenden ketten. Man muss sie finden und sie davon erlösen.
Ein Haarband, ein Korallenarmband, ein Schal … Und ein Rollschuh.
Sandra sah sich die Liste mit den Fetischgegenständen an, die die
Polizei im Haus von Jeremiah Smith gefunden hatte: Alles Gegenstände, die eine
Verbindung zwischen ihm und den Opfern herstellten, ja, die die Mädchen
gewissermaßen ausmachten.
Sandra ruhte sich auf einer steinernen Gartenbank aus. Kurz zuvor
war sie an den Kollegen vorbei ins Freie geflohen. Es tat gut, hier zu sitzen
und sich von der Morgensonne wärmen zu
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