Der Seelensammler
bedrückt Camusso wirkte.
»Das könnte sein«, sagte der Commissario widerwillig.
Da begriff Sandra, dass sie mit ihren Vermutungen nicht die Einzige
war. »Ist ein weiteres Mädchen verschwunden?«
Camusso erstarrte. »Sie wissen doch, wie so was läuft, Kollegin
Vega! Wir dürfen nichts rauslassen, weil sonst Gerüchte entstehen, die unsere
Ermittlungen behindern könnten.«
»Wovor haben Sie Angst? Davor, dass die Medien Druck auf Sie
ausüben? Vor der öffentlichen Meinung? Vor Ihren Vorgesetzten?«
Der Commissario spielte auf Zeit. Doch als er merkte, dass seine
Kollegin so schnell nicht lockerlassen würde, gab er schließlich zu: »Vor einem
Monat ist eine Architekturstudentin verschwunden. Anfangs sprach vieles dafür,
dass sie freiwillig untergetaucht ist.«
»Meine Güte!« Sandra konnte kaum fassen, dass sie mit ihrer
Vermutung ins Schwarze getroffen hatte.
»Es ist genau so, wie Sie sagen: Vom Zeitlichen her kommt es hin.
Wir haben allerdings keine Beweise, nur einen Verdacht. Aber stellen Sie sich
vor, es kommt raus, dass wir die Sache nicht ernst genug genommen haben, bevor
dieser Jeremiah Smith aufgetaucht ist!«
Sandra konnte ihren Kollegen keinen Vorwurf machen. Manchmal stand
die Polizei enorm unter Druck und machte deswegen unverzeihliche Fehler.
»Wir suchen nach ihr«, versicherte ihr Camusso hastig.
Und da seid ihr nicht die Einzigen!, dachte Sandra, die endlich
verstanden hatte, welche Rolle die Pönitenziare in dieser Geschichte spielten.
Die steinerne Engelsstatue warf ihren Schatten auf den Commissario.
»Wie heißt die Studentin?«
»Lara.«
11 Uhr 26
Der Nemisee hatte eine Oberfläche von knapp anderthalb
Quadratkilometern. Er lag in den Albaner Bergen im Süden von Rom und war
eigentlich ein Kratersee. Jahrhundertelang erzählte man sich die Legende, dass
auf seinem Grund zwei riesige Schiffswracks lägen: reich geschmückte schwimmende
Paläste, die einst für Kaiser Caligula gebaut wurden. Fischer aus der Gegend
fanden immer mal wieder Teile davon. Doch erst im neunzehnten Jahrhundert, als
man das Wasser teilweise ablassen konnte, gelang es nach mehreren Versuchen,
die Schiffe zu bergen. Während des Zweiten Weltkriegs verbrannten sie jedoch in
dem Museum, das sie beherbergte. Die Schuld gab man deutschen Soldaten, aber
beweisen ließ sich das bis heute nicht.
Diese Informationen standen in einer Touristenbroschüre, die
Clemente ihm im üblichen Briefkasten hinterlegt hatte. Zwischen den Seiten steckte
ein kurzes Dossier über den Chirurgen Alberto Canestrari. Nichts Besonderes,
mit Ausnahme einer kurzen Notiz, die Marcus dazu gebracht hatte, einen kleinen
Ausflug zu unternehmen. Während er nun in einem Linienbus saß und am See
entlangfuhr, dachte er über die einzigartige Wechselbeziehung zwischen
Vulkanlandschaft und Feuer nach.
Ironischerweise war auch die Klinik, die Canestrari in Nemi besessen
hatte, durch Brandstiftung zerstört worden. Die Täter waren nach wie vor auf
freiem Fuß.
Hustend und schwarze Rauchwolken ausspuckend, erklomm der Bus mühsam
die schmale Panoramastraße. Durchs Fenster konnte Marcus das in Schutt und
Asche gelegte Gebäude erkennen, von dem aus man nach wie vor einen beneidenswerten
Ausblick auf die Umgebung hatte.
An einer Haltebucht stieg Marcus aus und ging den Rest zu Fuß
weiter. Er schritt durch ein Tor, neben dem immer noch ein Schild mit dem Namen
der Klinik hing. Inzwischen war es dermaßen mit Efeu überwuchert, dass es
beinah unlesbar war. Marcus bog in eine Allee ein, die durch ein Wäldchen
führte. Die Vegetation hatte sich ungehindert ausgebreitet und das Gebiet
zurückerobert. Die vom Feuer zerstörte Klinik bestand aus zwei Stockwerken und
einem Kellergeschoss. Früher war das Gebäude sicher einmal eine Ferienvilla gewesen,
die aufwendig umgebaut worden war.
Das war also Alberto Canestraris kleines Reich!, dachte Marcus und
musterte den verrußten Bau. Hier hatte der Mann, der sich für einen guten
Menschen hielt, Leben gerettet.
Marcus durchquerte das, was noch von einem Eisentor übrig geblieben
war, und betrat den Flur. Das Innere des Hauses war genauso gespenstisch wie
das Äußere. Die von den Flammen angenagten Säulen, die das Atrium säumten, waren
beängstigend dünn, und es war kaum vorstellbar, dass sie überhaupt noch in der
Lage waren, die Last des Gewölbes zu tragen. Der Boden war an einigen Stellen
aufgeplatzt, und in den Rissen wucherte Unkraut. In der Decke klaffte ein Loch,
durch das man ins
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