Der Seelensammler
Dienstausweis um den Hals und den Dienstbefehl von De
Michelis in der Hand. Die Beamten kontrollierten ihre Befugnisse und tauschten
erfreute Blicke. Sandra hatte das Gefühl, dass sich die Männerwelt auf einmal
wieder für sie interessierte. Und sie wusste auch, warum: Die mit Schalber
verbrachte Nacht hatte sie von ihrem Trauerschleier befreit. Sie ertrug die
Prozedur mit gespielter Resignation, bis die Beamten sie durchließen – nicht
ohne sich dafür zu entschuldigen, dass sie sie so lange aufgehalten hatten.
Sie ging die Auffahrt zum Wohnsitz von Jeremiah Smith hinauf. Der
Garten war verwildert, Unkraut überwucherte die großen Blumenschalen. Hie und
da waren steinerne Nymphen und Venusfiguren zu sehen, einige davon ohne
Gliedmaßen. Efeu rankte sich um einen Brunnen, das darin stehende Wasser hatte
sich grünlich verfärbt. Das Haus war wie ein im Lauf der Zeit ergrauter
Felsblock. Eine breite Treppe führte zum Eingang hinauf und wand sich dann weiter
nach oben. Anstatt die Fassade zu schmücken, schien sie sie wie ein Sockel zu
stützen.
Sandra stieg die zum Teil bröckelnden Stufen empor. Kaum hatte sie
das Haus betreten, war jegliches Tageslicht verschwunden: Die dunklen Flurwände
hatten es verschluckt. Ein seltsames Gefühl überkam sie, als befände sie sich
in einem schwarzen Loch, das alles verschlang. Wer hier hineingeriet, würde nie
mehr herauskommen.
Die Spurensicherung war noch nicht fertig, aber das meiste war
bereits erledigt. Die Kollegen waren gerade dabei, die Möbel zu untersuchen.
Sie zogen Schubladen heraus, kippten ihren Inhalt auf den Boden und gingen ihn
durch. Sie kontrollierten die Sofapolster und nahmen Kissenfüllungen heraus.
Jemand suchte die Wände mit einem Stethoskop nach Hohlräumen ab, die als
Versteck dienen konnten.
Ein großer magerer Mann in einem auffälligen Anzug gab Hundeführern
Anweisungen und schickte sie in den Garten. Er bemerkte sie und gab ihr ein
Zeichen, dass sie kurz warten solle. Sandra nickte und blieb im Eingangsbereich
stehen. Polizisten und Hunde verließen das Haus, wobei die Tiere in Richtung
Garten zerrten. Dann kam ihr der Mann entgegen.
»Ich bin Commissario Camusso.« Er gab ihr die Hand. Der Mann trug
einen purpurfarbenen Anzug und ein gestreiftes Hemd in ähnlichen Farben, eine
gelbe Krawatte rundete seine Erscheinung ab. Der perfekte Dandy.
Sandra ließ sich von der exzentrischen Erscheinung ihres Kollegen
nicht ablenken, auch wenn sie sie in all der Finsternis beinahe als wohltuend
empfand. »Vega.«
»Ich weiß, wer Sie sind, ich wurde bereits informiert. Herzlich
willkommen.«
»Ich möchte Sie nicht bei der Arbeit stören.«
»Machen Sie sich deswegen keine Sorgen! Wir sind hier fast fertig.
Der Zirkus wird seine Zelte gegen Nachmittag abbrechen: Ich fürchte, die
Hauptvorstellung haben Sie verpasst.«
»Ihr habt Jeremiah Smith und Beweise, dass er für die vier Morde
verantwortlich ist. Was sucht ihr denn noch?«
»Wir wissen nicht, wo sein ›Spielzimmer‹ war. Die Mädchen wurden
nicht hier ermordet. Er hat sie alle einen Monat lang gefangen gehalten. Es gab
keine sexuelle Gewalt. Er hat sie gefesselt, aber es gab keine Folterspuren an
den Leichen. Nach dreißig Tagen hat er ihnen die Kehle durchgeschnitten, und
das war’s. Aber dafür hat er ein ruhiges Plätzchen gebraucht, wo er ungestört
tun und lassen konnte, was er wollte. Wir haben gehofft, hier auf einen Hinweis
zu stoßen, der uns zu seinem Gefängnis führt – doch leider vergeblich. Und
wonach suchen Sie?«
»Mein Vorgesetzter, Ispettore De Michelis, möchte, dass ich einen
detaillierten Bericht über Serienmörder anfertige. Etwas Derartiges kommt
schließlich nur sehr selten vor. Für uns Spurensicherungstechniker ist das eine
hervorragende Weiterbildungsmöglichkeit.«
»Verstehe«, sagte der andere gelangweilt, ohne nachzuhaken.
»Was macht denn die Hundestaffel noch hier?«
»Die Leichenspürhunde drehen eine Runde durch den Garten: Vielleicht
finden sie ja irgendetwas. Weil es in den letzten Tagen so viel geregnet hat,
ging es nicht früher. Trotzdem bezweifle ich, dass sie etwas Interessantes
wittern werden. Die Erde ist feucht und sondert zu viele Gerüche ab. Die Tiere
sind regelrecht berauscht davon und können sich nicht mehr konzentrieren.« Der
Commissario gab einem seiner Untergebenen ein Zeichen, der ihm daraufhin eine
Mappe überreichte. »Hier, für Sie! Da steht alles drin, was wir über Jeremiah
Smith wissen. Die Mappe enthält
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