Der Seelensammler
bin
kein Sadist.« Seine Rechtfertigung klang glaubwürdig. »Ich habe sie am Leben
gelassen, nach einem guten Grund gesucht, ihr die Freiheit zurückzugeben. Doch
jeden Tag schob ich es aufs Neue hinaus. Sie weinte, war verzweifelt, flehte
mich an, sie gehen zu lassen. Ich habe mir einen Monat Zeit gegeben, bevor ich
eine Entscheidung gefällt habe. Schließlich habe ich gemerkt, dass ich
keinerlei Mitleid empfinde. Und da habe ich sie getötet.«
Das war Teresa gewesen. Sandra fiel der Name von Monicas
Schwester ein. Von der Schwester der Ärztin, die sich anders als er entschieden
hatte, ihn am Leben zu lassen.
»Aber ich war noch nicht zufrieden. Ich erledigte meinen
Job in der Pönitenziarie, spürte Verbrechen und Verbrecher auf, ohne dass Devok
Verdacht schöpfte. Ich war beides gleichzeitig: ein Mann der Gerechtigkeit und
der Sünde. Nach einer Weile habe ich mich mit einem zweiten Mädchen erneut auf
die Probe gestellt. Und dann mit einem dritten und vierten. Jeder nahm ich
einen Gegenstand ab, eine Art Andenken, in der Hoffnung, dass mir das helfen
würde, mir meine Schuld vor Augen zu führen. Aber es war jedes Mal das Gleiche:
Ich empfand keinerlei Mitleid. Ich war das Böse dermaßen gewohnt, dass ich
nicht mehr zwischen dem, was meine Ermittlungen ergaben, und dem, was ich
selbst beging, unterscheiden konnte. Und weißt du, welch absurde
Schlussfolgerung ich aus alldem gezogen habe? Je mehr Böses ich tue, desto
besser werde ich darin, es aufzuspüren. Seitdem habe ich zig Leben gerettet und
zahlreiche Verbrechen vereitelt.« Er lachte verbittert.
»Wenn ich dich jetzt töte, werde ich das Leben dieser Frau retten
und Lara verlieren.« Allmählich dämmerte es Marcus. »Tue ich das nicht, wirst
du mir sagen, wo die Studentin ist, aber die Polizistin erschießen. So oder so – ich bin der Verlierer: Ich bin dein eigentliches Opfer. Im Grunde laufen
beide Optionen auf das Gleiche hinaus: Du willst mir beweisen, dass man etwas
Böses tun muss, um gut sein zu können.«
»Das Gute hat seinen Preis, Marcus. Nur das Böse ist gratis.«
Sandra war erschüttert. Doch sie hatte keine Lust, sich
zur bloßen Zuschauerin degradieren zu lassen. »Dieses Arschloch soll mich ruhig
umbringen!«, rief sie. »Lass dir sagen, wo Lara ist. Sie ist schwanger.«
Jeremiah zog ihr den Pistolenkolben über den Kopf.
»Rühr sie nicht an!«, drohte ihm Marcus.
»Bravo, so gefällst du mir! Ich will eine Reaktion sehen! Wut ist
der erste Schritt.«
Marcus hatte nicht gewusst, dass Lara schwanger war. Diese
Enthüllung erschütterte ihn.
Jeremiah war das nicht entgangen. »Was ist schlimmer: zu sehen, wie
jemand vor deinen Augen ermordet wird, oder zu wissen, dass jemand anders weit
weg von hier im Sterben liegt? Die Polizistin oder Lara und ihr Ungeborenes –
entscheide dich!«
Marcus musste Zeit schinden. Sollte er darauf hoffen, dass die
Polizei käme? Aber Jeremiah hatte nichts zu verlieren. »Wenn ich zulasse, dass
du die Polizistin erschießt – woher weiß ich dann, dass du mir anschließend
tatsächlich sagst, wo Lara ist? Du könntest beide töten. Vielleicht spekulierst
du darauf, dass ich mich dann von meiner Wut zur Rache hinreißen lasse. Und
dann hättest du gewonnen.«
Jeremiah zwinkerte ihm zu. »Was dich angeht, habe ich meinen Job
wirklich gut gemacht, das muss ich schon sagen.«
Marcus verstand nicht. »Was soll das heißen?«
»Denk doch mal nach, Marcus: Wie bist du auf mich gestoßen?«
Ȇber das Succinylcholin, das sich Alberto Canestrari gespritzt hat:
Du hast dich von deinem letzten Fall inspirieren lassen.«
»Nur davon? Bist du dir sicher?«
Marcus musste nachdenken.
»Los, mach schon, enttäusch mich nicht! Denk an den Schriftzug auf
meiner Brust.«
Töte mich. Was wollte er ihm damit sagen?
»Ich gebe dir eine kleine Hilfestellung: Vor einiger Zeit habe ich
beschlossen, die Geheimnisse unseres Archivs zu lüften. Und zwar gegenüber
Angehörigen oder Freunden von Opfern, deren Fälle offiziell nie aufgeklärt
wurden. Ich aber hatte sie aufgeklärt. Ich ließ meine Ermittlungsergebnisse aus
der Pönitenziarie verschwinden und ließ ihnen entsprechende Informationen
zukommen. Doch da ich ebenfalls schuldig bin, musste ich jemandem, dem ich Leid
zugefügt habe, ebenfalls die Chance geben, sich zu rächen. Deshalb die
Inszenierung mit dem Krankenwagen und dem angeblichen Infarkt: Hätte mich die
junge Ärztin sterben lassen, anstatt mir zu helfen, hätte ich für meine
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