Der Seelensammler
entdeckt.
Sandra verstand, aber leider zu spät. Zuerst spürte sie, wie ihre Gliedmaßen
steif wurden, was sich bald in Richtung Hals fortsetzte. Sie konnte den Kopf
nicht mehr bewegen, und ihre Beine gaben nach. Sie fiel zu Boden. Ihr Körper
zuckte, sie verlor jegliche Kontrolle über ihn. Dann spürte sie, wie ihr die
Luft wegblieb, so als gäbe es auf einmal nicht mehr genügend Sauerstoff im
Raum. Wie in einem Aquarium!, dachte sie, nur dass es um sie herum kein Wasser
gab. Sie war einfach nur nicht mehr in der Lage, Sauerstoff aufzunehmen.
Marcus beugte sich über die Frau: Sie rang nach Luft und
lief bereits blau an. Er wusste nicht, wie er ihr helfen sollte.
Jeremiah zeigte auf den Gummischlauch neben dem Bett. »Um sie zu
retten, müsstest du ihr den hier in den Hals stecken. Oder Alarm schlagen. Aber
vorher musst du mich töten, denn ich werde dir das nicht erlauben.«
Marcus warf einen Blick auf die Pistole, die er auf den Boden gelegt
hatte.
»Ihr bleiben noch knapp vier Minuten, vielleicht fünf. Nach drei
Minuten kommt es zu irreversiblen Hirnschäden. Denk daran, Marcus: An der
Grenze zwischen Gut und Böse gibt es einen Spiegel. Wenn du hineinschaust,
wirst du die Wahrheit erkennen. Denn auch du …«
Der Schuss ließ ihn mitten im Satz verstummen. Jeremiah fiel nach
hinten. Seine Arme waren ausgebreitet und der Kopf der anderen Seite des Bettes
zugewandt.
Marcus achtete nicht weiter auf ihn und die Pistole, die er nach dem
Abdrücken nach wie vor in Händen hielt. Stattdessen konzentrierte er sich auf
die Frau. »Ich flehe dich an, halte durch!« Dann ging er zur Tür und löste den
Feueralarm aus. Das war die schnellste Methode, Hilfe zu holen.
Sandra verstand nicht, was los war. Sie spürte, dass sie
das Bewusstsein verlor. Ihre Lunge brannte, und sie konnte sich nicht bewegen,
nicht schreien. Alles spielte sich ausschließlich in ihrem Kopf ab.
Marcus kniete neben ihr und griff nach ihrer Hand. Hilflos
musste er den stummen Kampf der Polizistin mitansehen.
»Aus dem Weg!«
Der Befehl erreichte ihn von hinten. Marcus gehorchte und sah ein
kleine junge Frau im weißen Kittel, die Sandra am Arm packte und auf das
nächstgelegene Bett hievte. Er half ihr, ihre Füße hochzuheben.
Die Ärztin nahm ein Laryngoskop von einem Wagen. Sie steckte es der
Frau in den Hals und führte langsam einen Schlauch ein, den sie anschließend an
die Beatmungsmaschine anschloss. Mit dem Stethoskop hörte sie ihren Brustkorb
ab. »Der Herzschlag beruhigt sich«, sagte sie. »Wir haben gerade noch
rechtzeitig eingegriffen.« Dann drehte sie sich zum leblosen Körper Jeremiah
Smiths um. Sie betrachtete das Loch, das die Kugel in seiner Schläfe
hinterlassen hatte, und anschließend Marcus’ Narbe. Sie staunte über die
seltsame Parallele.
Erst in diesem Moment erkannte er sie: Es war Monica, Teresas
Schwester! Diesmal hatte sie der Polizistin das Leben gerettet.
»Verschwinden Sie!«, sagte die junge Ärztin zu ihm.
Er verstand nicht gleich.
»Gehen Sie!«, drängte sie. »Niemand wird verstehen, warum Sie
geschossen haben.«
Marcus zögerte.
»Ich weiß, was ich tue!«, versicherte sie ihm.
Er wandte sich der Polizistin zu, deren Gesichtsfarbe sich
allmählich wieder normalisierte. In ihren weit aufgerissenen Augen nahm er ein
Flackern wahr. Es signalisierte Zustimmung. Marcus strich ihr liebevoll über
die Wange und nahm den Personalausgang.
EIN JAHR ZUVOR
PRYPJAT
Der Sonnenuntergang ließ den Horizont über Tschernobyl
genesen.
Das Kraftwerk am Fluss war ein schlafender Vulkan. Was erloschen und
harmlos wirkte, war aktiver und gefährlicher als je zuvor und würde noch
jahrtausendelang Tod und Missbildungen säen.
Von der Straße aus hatte der Jäger eine phantastische Aussicht auf
die Reaktoren, auch auf die Nummer vier. Sie war für das größte Atomunglück in
der Geschichte verantwortlich und steckte jetzt in einem fragilen Sarkophag aus
Blei und Stahlbeton.
Der Asphalt war voller Schlaglöcher, und die Stoßdämpfer des alten
Volvo ächzten. Der Jäger fuhr an dichtem Wald vorbei. Aufgrund des radioaktiven
Windes direkt nach dem Unfall hatten die Bäume ihre Farbe verändert. Die noch ahnungslosen
Anwohner hatten ihnen den Namen »roter Wald« gegeben.
Die lautlose Apokalypse hatte am 24. April 1986 ihren Lauf genommen,
und zwar um 1 Uhr 23.
Anfangs hatten die Behörden den Unfall heruntergespielt und waren so
naiv gewesen zu glauben, alles vertuschen zu können. Ihre Sorge hatte eher
Weitere Kostenlose Bücher