Der Seelensammler
wenigen
Minuten führte es zum Erstickungstod wie bei Canestrari. Das Mittel sorgte für
eine sofortige Ganzkörperlähmung, hinterließ keine Spuren und keine Fragen.
Aber Canestrari hatte keinen Rettungswagen gerufen. Jeremiah
hingegen schon.
Was sah die Polizei? Einen Serienmörder, der keine Gefahr mehr
darstellte. Was sahen die Ärzte? Einen Komapatienten. Und was sah Marcus?
Auffälligkeiten.
Irgendwann würde die Wirkung des Succinylcholins nachlassen. Und
dann würde Jeremiah Smith plötzlich aufwachen.
23 Uhr 59
Vor. Halt. Zurück. Danach begann das Ganze wieder von
vorn: Vor. Halt. Zurück. In dem blauen Warteraum auf der Intensivstation war
nichts außer diesem ununterbrochenen, nervtötenden Geräusch zu hören. Marcus
sah sich um. Niemand. Langsam ging er dem Geräusch nach.
Die Sicherheitsschiebetür, die zur Intensivstation führte, öffnete
sich langsam, blieb plötzlich stecken und ging dann wieder zu. Die gleiche
Bewegung vollzog sich immer wieder, ohne je zu Ende geführt zu werden.
Irgendetwas blockierte den Schließmechanismus. Marcus trat näher, um
nachzusehen. Es war ein Fuß.
Der wachhabende Polizist lag bäuchlings auf dem Boden. Marcus
betrachtete den Körper – die Hände, die blaue Uniform, die Schuhe mit den
Gummisohlen – und merkte, dass etwas fehlte. Es war der Kopf. Er hatte keinen
Kopf mehr. Der Schädel war nach einem Schuss aus nächster Nähe explodiert.
Und das ist erst der Anfang!, dachte Marcus.
Er beugte sich über den Toten und sah, dass das Pistolenhalfter an
seinem Gürtel leer war. Nachdem er ihn kurz gesegnet hatte, richtete er sich
wieder auf. Er lief über das Linoleum, verlangsamte seine Schritte und sah nach
rechts und links zu den Reanimationsräumen. Die Patienten lagen auf dem Rücken
und schliefen einen durch nichts zu erschütternden gleichgültigen Schlaf. Die
Maschinen atmeten für sie. Alles wirkte unverändert.
Marcus bewegte sich inmitten dieser unwirklichen Stille. So muss es
in der Hölle aussehen!, dachte er: ein Ort in der Schwebe, an dem das Leben
kein Leben mehr ist, aber auch noch nicht dem Tod weichen musste. Das Ganze
wirkte wie ein Zaubertrick, bestehend aus der Frage, die man sich automatisch
stellte, wenn man diese Gestalten betrachtete: Wo waren sie? Warum waren sie
hier und gleichzeitig auch wieder nicht?
Als er den Personalraum erreichte, erblickte er drei Krankenschwestern,
die dem Schicksal ihrer Patienten entronnen waren. Oder auch nicht – je
nachdem, wie man es sah.
Die erste Krankenschwester lehnte am Kontrollpult. Die Monitore
waren blutbespritzt, und die Frau wies eine klaffende Wunde an der Kehle auf.
Die zweite lag neben der Tür. Sie hatte versucht zu fliehen, leider vergebens:
Eine Kugel hatte sie in der Brut getroffen und zurücktaumeln lassen. Am Ende
des kleinen Raums saß ein Mann im weißen Kittel zusammengesunken auf einem
Stuhl. Seine Arme hingen schlaff herab, der Kopf war in den Nacken gelegt und
die Augen auf irgendeinen Punkt an der Decke gerichtet.
Jeremiah Smiths Zimmer lag ganz am Ende des Flurs. Marcus ging
darauf zu und rechnete damit, das Bett leer vorzufinden.
»Komm her!« Die Stimme, die ihn gerufen hatte, war rau und tief. Wie
die eines Menschen, der eine Weile intubiert gewesen ist. »Du bist Pönitenziar,
nicht wahr?« Marcus war einige Sekunden lang wie gelähmt. Dann ging er langsam
auf die offen stehende Tür zu. Als er an der Glasscheibe vorbeikam, sah er,
dass die Vorhänge zugezogen waren. Trotzdem erkannte er einen Schatten in der
Zimmermitte. Er lehnte sich neben der Tür an die Wand.
»Komm rein. Hab keine Angst.«
»Du bist bewaffnet«, erwiderte Marcus. »Das weiß ich, weil ich den
Polizisten untersucht habe.«
Schweigen. Dann sah er, wie etwas durch die Türöffnung auf ihn
zuschlitterte. Es war eine Pistole.
»Sieh nach: Sie ist geladen.«
Marcus war verwirrt. Er wusste nicht, wie er sich verhalten sollte.
Warum hatte er sie ihm gegeben? Er machte nicht den Eindruck, als wollte er
sich ergeben. Das ist ein Spiel, ermahnte er sich. Und mir bleibt nichts
anderes übrig, als mitzuspielen. »Heißt das, du bist jetzt unbewaffnet?«
Der Knall war ohrenbetäubend, die Antwort beredt. Der Mann in dem
Zimmer war alles andere als wehrlos.
»Woher soll ich wissen, dass du mich nicht sofort erschießt, sobald
ich das Zimmer betrete?«
»Wenn du sie retten willst, ist das deine einzige Chance.«
»Sag mir, wo Lara ist.«
Gelächter. »Ehrlich gesagt, habe ich nicht sie
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