Der Seelensammler
Cheek to Cheek. Sie hatte
sich gefragt, woher das Monster solch ein intimes Detail kannte.
So als könnte er Gedanken lesen, bestätigte ihr Jeremiah: »Ja, meine
Liebe, ich war mit deinem Mann auf dieser verlassenen Baustelle verabredet. Der
Dummkopf hatte zwar Vorsichtsmaßnahmen getroffen, aber letztlich hat er mir
vertraut, weil er dachte, dass Priester im Grunde gut sind. Kurz bevor er unten
aufprallte, dürfte er seine Meinung geändert haben.«
Sandra hatte Schalber verdächtigt. Die Wahrheit war ein Schock. Als
sie hörte, wie dermaßen zynisch über Davids Tod geredet wurde, kochte sie vor
Wut. Kurz zuvor hatte sie dem Mörder ihres Mannes ihr größtes Geheimnis
anvertraut. Er hatte nicht im Koma gelegen und die Geschichte von der Abtreibung
und ihren anschließenden Gewissensbissen mit angehört. Und damit besaß er nun
noch etwas von ihr und David, nachdem er ihm bereits alles genommen hatte.
»Er hatte das Archiv der Pönitenziarie entdeckt. Du wirst verstehen,
Marcus, dass ich ihn nicht am Leben lassen konnte«, rechtfertigte sich
Jeremiah.
Jetzt kannte Sandra das Motiv. Und wenn der Mann, der ihr eine
Pistole in den Nacken drückte, Pönitenziar war, hatte Schalber recht: Es war
einer von ihnen gewesen, der David getötet hatte. Es war so, wie Schalber
gesagt hatte: Mit der Zeit waren sie vom Bösen korrumpiert worden.
»Seine Frau ist nach Rom gekommen, um ihn zu rächen, würde das aber
nie zugeben, stimmt’s, Sandra?«
Sie sah ihn nur hasserfüllt an.
»Ich hätte dich in dem Glauben lassen können, dass es ein Unfall
war«, sagte Jeremiah. »Stattdessen habe ich dir die Gelegenheit gegeben, die
Wahrheit zu erfahren und mich zu finden.«
—
»Wo ist Lara?«, unterbrach Marcus ihn. »Geht es ihr gut?
Ist sie noch am Leben?«
»Als ich das alles geplant habe, wusste ich, dass du nach der
Entdeckung meines Verstecks bei der Villa herkommen und mich genau das fragen
würdest.« Er schwieg und musterte ihn lächelnd. »Denn nur ich weiß, wo das
Mädchen ist.«
»Dann sag es mir!«
»Alles zu seiner Zeit, mein Freund. Hättest du meinen Plan bis heute
Abend nicht durchschaut, hätte ich mich dazu berechtigt gefühlt, dieses Bett zu
verlassen und für immer zu verschwinden.«
»Aber ich habe ihn durchschaut, ich war dir ebenbürtig. Warum lässt
du also diese Frau nicht gehen und übergibst mir Lara?«
»Weil das nicht so einfach ist. Du musst eine Wahl treffen.«
»Und die wäre?«
»Ich habe eine Pistole, du hast eine Pistole. Du musst entscheiden,
wer heute Nacht sterben wird.« Beinahe zärtlich strich er mit der
Pistolenmündung über den Kopf der Frau.
»Ich erschieße die Polizistin. Wenn du mich gewähren lässt, erzähle
ich dir, wo Lara ist. Wenn du mich tötest, rettest du zwar der Polizistin das
Leben, wirst aber nie erfahren, was der Studentin zugestoßen ist.«
»Warum willst du, dass ich dich umbringe?«
»Hast du denn immer noch nicht verstanden, Marcus?«
In Jeremiahs Stimme schwang großes Bedauern mit, als wolle er zu
verstehen geben, dass Marcus es doch besser wissen müsse.
»Dann klär mich auf!«, erwiderte dieser.
»Padre Devok, der durchgeknallte Alte, hatte die Lektion der
Pönitenziare gelernt: Er war davon überzeugt, dass nur das Böse dem Bösen
Einhalt gebieten kann. Was für eine Anmaßung! Um ihn zu verstehen, mussten wir
ihm auf die dunkle Seite folgen. Das Böse von innen heraus kennenlernen, uns
mit ihm identifizieren. Aber einige von uns haben nicht mehr zurückgefunden.«
»Du zum Beispiel.«
»Und andere vor mir«, fügte Jeremiah hinzu. »Ich erinnere mich noch
gut daran, wie Devok mich rekrutiert hat. Meine Eltern waren sehr religiös,
daher meine Berufung. Ich war achtzehn und ging aufs Priesterseminar. Padre
Devok nahm mich zu sich, lehrte mich, die Welt mit den Augen des Bösen zu
sehen. Dann löschte er meine Vergangenheit, meine Identität aus und verbannte
mich für immer in dieses Schattenreich.« Eine Träne lief ihm übers Gesicht.
»Warum hast du angefangen zu töten?«
»Ich habe immer geglaubt, zu den Guten zu gehören und deshalb besser
zu sein als andere«, sagte Jeremiah sarkastisch. »Aber irgendwann wollte ich
sichergehen, dass ich mir das nicht nur einbilde. Und das ging nur, indem ich
mich selbst auf die Probe stellte. Also habe ich das erste Mädchen entführt und
es in das Versteck gebracht. Du hast es ja gesehen: Dort gibt es keine
Folterwerkzeuge, denn das, was ich tat, machte mir kein bisschen Spaß. Ich
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