Der Seelensammler
der
Geheimhaltung und weniger der Volksgesundheit gegolten. Die Evakuierung der Region
hatte erst sechsunddreißig Stunden nach dem Unglück begonnen.
Die Stadt Prypjat lag nicht weit von den Reaktoren entfernt. Der
Jäger sah, wie ihre gespenstische Silhouette vor ihm auftauchte. Die
Betonhochhäuser, die zusammen mit dem Kraftwerk gebaut worden waren, gaben
weder Licht noch Lebenszeichen von sich. Am Tag der Evakuierung zählte Prypjat
47000 Einwohner. Es war eine moderne Stadt gewesen, mit Cafés, Restaurants,
Theatern, Sportplätzen und zwei sehr effizienten Krankenhäusern. Hier waren die
Lebensbedingungen besser gewesen als anderswo im Land.
Jetzt war davon nur noch eine düstere Schwarz-Weiß-Postkarte übrig
geblieben.
Ein kleiner Fuchs überquerte die Straße, der Jäger bremste behutsam,
um ihn nicht zu überfahren. Die Natur hatte von der Abwesenheit des Menschen
profitiert. Viele Tier- und Pflanzenarten hatten sich Lebensraum zurückerobert,
der paradoxerweise zu einem irdischen Paradies geworden war. Aber wegen der unablässigen
radioaktiven Strahlung konnte niemand vorhersagen, was die Zukunft bringen
würde.
Der Jäger hatte einen Geigerzähler dabei. Er lag auf dem
Beifahrersitz und gab in regelmäßigen Abständen elektronische Laute von sich –
eine Art Morsecode aus einer anderen Dimension. Ihm blieb nicht viel Zeit. Er
hatte einen ukrainischen Funktionär bestechen müssen, um einen Passierschein
für die verbotene Zone zu bekommen. Sie hatte einen Radius von dreißig
Kilometern, und ihr Mittelpunkt war das inzwischen stillgelegte Kraftwerk. Der
Jäger musste dieses Schreiben nutzen, um seine Ermittlungen abzuschließen.
Außerdem würde es bald dunkel werden.
Er kam an Militärfahrzeugen vorbei, die verlassen am Straßenrand
standen. Davon gab es Hunderte – einen regelrechten Friedhof aus Lastern,
Hubschraubern und sonstigen Vehikeln. Das Militär hatte sie benutzt, um die
Katastrophe einzudämmen. Doch anschließend waren sie dermaßen kontaminiert gewesen,
dass man beschlossen hatte, sie dort zu lassen.
Ein verrostetes Schild mit kyrillischen Buchstaben hieß ihn in der
Stadt willkommen.
An ihrem Rand befand sich ein Vergnügungspark, wo sich noch einen
Tag nach dem Unglück Kinder amüsiert hatten. Er war der erste Ort gewesen, den
die radioaktive Wolke erreicht hatte. Es gab ein Riesenrad, von dem der saure Regen
nur noch ein verrostetes Skelett übrig gelassen hatte.
Ein paar Betonblöcke, die mitten auf der Fahrbahn standen,
verhinderten die Zufahrt nach Prypjat. Am Stacheldraht hingen Warnschilder. Der
Jäger ließ den Wagen stehen. Von hier aus würde er zu Fuß weitergehen. Er holte
einen Rucksack aus dem Kofferraum und hängte ihn sich über die Schulter. Mit
dem Geigerzähler in der Hand wagte er sich in die Geisterstadt hinein.
Vogelgezwitscher, dessen Echo sich mit dem seiner Schritte
zwischen den breiten, von Hochhäusern gesäumten Alleen verlor, begrüßte ihn.
Das grelle Tageslicht wurde schnell schwächer, und Kälte zog auf. Manchmal
glaubte er Stimmen zu hören, die durch die leeren Straßen hallten – Klanghalluzinationen,
vielleicht aber auch alte Klangerinnerungen, die für immer an einem Ort
gefangen waren, an dem die Zeit bedeutungslos geworden war.
Einige Wölfe strichen zwischen den Ruinen umher. Er konnte sie hören
oder nahm sie als graue Schatten wahr. Noch hielten sie sich fern, doch sie
beobachteten ihn.
Er warf einen Blick auf seinen Stadtplan und sah sich um. Jedes
Gebäude war mit einer großen weißen Ziffer markiert. Ihn interessierte der
Wohnblock Nummer 109.
Im elften Stock hatten einst Dima Karoliszyn und seine Eltern
gewohnt.
Jäger wussten, dass man eine Suche nicht beim letzten Mord einer
Serie, sondern beim ersten begann. Denn dann verfügte der Mörder noch nicht
über Erfahrung und hatte vermutlich Fehler gemacht. Das erste Opfer stellet
eine Art »Nullpunkt« dar, von dem man viel über den Serienmörder lernen konnte,
bevor die Kette der Zerstörung unaufhaltsam ihren Lauf nahm.
Soweit der Jäger informiert war, hatte der Verwandlungskünstler als
Erstes Dimas Identität angenommen, und zwar bereits im Alter von acht Jahren,
noch bevor er nach Kiew ins Waisenhaus gekommen war.
Der Jäger musste die Treppe nehmen, da es keinen Strom mehr gab, der
den Lift hätte betreiben können. Trotzdem vibrierte die Gegend hier regelrecht
vor radioaktiver Energie. Der Geigerzähler registrierte neue Maximalwerte. Der
Jäger wusste, dass es in
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