Der Seelensammler
Schuld
bezahlt. Doch Teresas Schwester hat beschlossen, mich am Leben zu lassen.«
Das ist keine gute Entscheidung gewesen!, dachte Sandra.
Das Böse, das Monica nicht begangen hatte, hatte einen anderen Weg gefunden,
sich zu manifestieren. Deshalb waren sie jetzt hier: weil diese junge Frau gut
gewesen war. Das war doch absurd!
»Dabei lag doch klar auf der Hand, dass ich das alles inszeniert
habe! Ich habe mir sogar diese Tätowierung zugefügt, damit es keine Zweifel
gibt … Aber niemand konnte sie deuten. Woran erinnert dich das?«
Marcus überlegte fieberhaft. »An den Mord an Valeria Altieri. Und
das mit Blut geschriebene Wort über ihrem Bett: EVIL.«
»Bravo!«, sagte Jeremiah herablassend. »Alle lasen EVIL, das Böse,
dabei hieß es LIVE. Wegen des Dreieck-Symbols, das das Blut der Opfer auf dem
Teppich hinterlassen hatte, fahndete man nach einer Sekte. Keiner hat an eine
Videokamera gedacht. Die Lösung ist für alle sichtbar, aber keiner sieht sie.
Keiner möchte sie sehen.«
Marcus ahnte, welches Ziel er mit diesem unfassbaren Plan verfolgte:
»Der Fall Federico Noni: Alle sahen nur den jungen Mann im Rollstuhl. Niemand
konnte sich vorstellen, dass er der Mörder seiner Schwester war, und erst recht
nicht, dass er laufen konnte. Und bei dir war es ganz ähnlich: ein angeblich
harmloser Komapatient, der nur von einem einzigen Polizisten bewacht wird.
Nachdem ein Herzinfarkt ausgeschlossen wurde, kann sich kein Arzt erklären, was
mit dir los ist. Dabei standest du nur unter der Wirkung von Succinylcholin,
die bald nachlassen würde.«
»Es ist das Mitleid, das uns täuscht, Marcus. Hätte Pietro Zini kein
Mitleid mit Federico Noni gehabt, hätte er ihn damals gefasst. Hätte diese
Polizistin hier kein Mitleid mit mir gehabt, hätte sie mir nicht erzählt, dass
sie ihr Kind abgetrieben hat. Und jetzt macht sie sich Sorgen, weil Lara
schwanger ist!« Er lachte verächtlich.
»Mistkerl! Ich habe kein Mitleid für dich empfunden.« Die
gebückte Haltung verursachte Sandra Rückenschmerzen. Fieberhaft suchte sie nach
einem Ausweg. Sie konnte nur auf einen Moment warten, an dem Jeremiah abgelenkt
war, und dann versuchen, sich auf ihn zu werfen. In der Hoffnung, dass Marcus –
denn so hieß der Pönitenziar, wie sie jetzt wusste – ihn daraufhin entwaffnen
könnte. Anschließend würde sie auf dieses Monster eintreten, bis es ihr verriet,
wo Lara steckte.
»Ich habe nichts von dir gelernt!«, erwiderte Marcus.
»Unbewusst hast du dir all diese Lektionen zu eigen gemacht und bist
bis hierher gekommen. Jetzt musst du entscheiden, ob du noch weitergehen
willst.« Er sah ihn ernst an. »Töte mich.«
»Ich bin kein Mörder.«
»Bist du dir sicher? Um das Böse erkennen zu können, muss man es in
sich tragen. Du bist wie ich. Horch in dich hinein, dann wirst du verstehen.«
Jeremiah drückte die Pistolenmündung fester gegen Sandras Kopf und legte den
anderen Arm hinter den Rücken. Er sah aus wie ein Henker kurz vor der
Hinrichtung. »Ich werde jetzt bis drei zählen. Dir bleibt nicht mehr viel
Zeit.«
Marcus zielte mit der Pistole auf Jeremiah. Er war ein ideales Ziel,
aus dieser Entfernung würde er ihn problemlos treffen. Aber zuerst sah er noch
einmal die Frau an. Er merkte, dass sie kurz davor stand, einen
Befreiungsversuch zu wagen. Er brauchte nur darauf zu warten, dass sie eine Bewegung
machte. Dann würde er Jeremiah außer Gefecht setzen, ohne ihn zu töten.
»Eins.«
Sandra gab ihm nicht die Zeit weiterzuzählen. Sie sprang abrupt
auf und schaffte es, die Pistole in Jeremiahs Hand mit ihrer Schulter zu
erwischen. Doch als sie den ersten Schritt auf Marcus zu machte, spürte sie
einen heißen Schmerz im Rücken. Sie glaubte getroffen worden zu sein, schaffte
es aber trotzdem, ihn zu erreichen und hinter ihm in Deckung zu gehen. In
diesem Moment dämmerte ihr, dass sie keine Explosion gehört hatte. Sofort
fasste sie sich an den Rücken und ertastete einen Gegenstand, der zwischen
ihren Wirbeln steckte.
»Oh mein Gott!«
Es war eine Spritze.
Jeremiah saß auf der Bettkante und bog sich vor Lachen.
»Succinylcholin!«, rief er.
Marcus musterte die Hand, die plötzlich hinter dem Rücken des Mannes
hervorgeschnellt war. Er hatte auch den Befreiungsversuch der Polizistin
vorhergesehen.
»Unglaublich, was man in einem Krankenhaus alles so findet, nicht
wahr?«, sagte er.
Er hatte sich vorbereitet, nachdem er den Polizisten
erschossen hatte. Deshalb hatte sie ihn vor dem Medikamentenraum
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