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Der Seelensammler

Der Seelensammler

Titel: Der Seelensammler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donato Carrisi
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einfachsten
Vorsichtsmaßnahmen außer Acht zu lassen.
    Er musste wissen, ob er mit seiner Intuition in Bezug auf Anatolij
Petrow richtig lag.

AM VORTAG
    4 Uhr 46
    Der Tote weinte.
    Diesmal machte er die Lampe neben dem Bett nicht an und griff nicht
zu dem Stift, um ein weiteres Detail an die Wand der Dachbodenwohnung in der
Via dei Serpenti zu schreiben. Er blieb im Dunkeln liegen und versuchte das,
was er im Traum gesehen hatte, zu deuten.
    Er brachte die aus seinen Träumen gewonnenen Hinweise zu den
Ereignissen in dem Prager Hotelzimmer in eine neue Reihenfolge.
    Berstendes Glas. Drei Schüsse. Linkshänder.
    Dadurch kam er auf die Lösung des Rätsels.
    Jeremiah Smiths letzte Worte hatten gelautet: »An der Grenze
zwischen Gut und Böse gibt es einen Spiegel. Wenn du hineinschaust, wirst du
die Wahrheit erkennen.«
    Jetzt wusste er, warum er es so hasste, in den Spiegel zu schauen.
Ein Schuss für jeden, für ihn und für Devok. Aber der Schütze war kein
Linkshänder: Es war sein Spiegelbild gewesen. Der erste Schuss hatte den Spiegel
zerstört.
    Es hatte nie einen dritten Mann gegeben. Sie waren allein gewesen.
    Er hatte es auf der Intensivstation der Gemelli-Klinik gespürt, als
er, ohne zu zögern, geschossen hatte. Aber mit Bestimmtheit wusste er es erst
seit dem Traum, in dem er die ganze Szene noch einmal gesehen hatte. Er wusste
nicht, warum er in Prag gewesen war, und auch nicht, was sein Lehrer dort
gewollt hatte. Er wusste nicht, was sie gesagt hatten und worum es gegangen
war.
    Marcus wusste nur, dass er wenige Stunden zuvor Jeremiah Smith
erschossen hatte. Aber vor ihm hatte er Devok erschossen.
    Bei Sonnenaufgang hatte der Regen Rom erneut in Besitz genommen
und wusch jetzt die Nacht von den Straßen.
    Marcus, der durch die Gassen des Regola-Viertels lief, stellte sich
in einem Hauseingang unter. Er schaute nach oben. Es sah nicht so aus, als
würde es bald aufhören. Also schlug er den Mantelkragen hoch und setzte seinen
Weg fort.
    In der Via Giulia betrat er eine Kirche. Er war noch nie zuvor hier
gewesen, Clemente hatte sich mit ihm in der Krypta verabredet. Als er die
Steinstufen hinabstieg, merkte er gleich, dass dieser Ort etwas ganz Besonderes
war: ein unterirdischer Friedhof.
    Bevor ein napoleonisches Dekret mit Hygienenormen ergangen war, nach
denen die Toten in einem gehörigen Abstand zu den Lebenden bestattet werden
mussten, hatte jede Kirche ihren eigenen Friedhof gehabt. Aber der, an dem er
sich jetzt befand, war anders als die anderen: Seine gesamte Ausstattung –
Kandelaber, Wandschmuck, Skulpturen – bestand aus menschlichen Knochen. Ein in
die Wand eingelassenes Skelett begrüßte die Gläubigen, wenn sie ihre Finger ins
Weihwasserbecken tauchten.
    Clemente hatte die Hände auf dem Rücken verschränkt und beugte sich
über die Inschrift am Fuß eines Schädelbergs.
    »Warum hier?«
    Der Freund drehte sich zu ihm um. »Weil ich den Ort passend fand,
nachdem ich deine Nachricht auf dem Anrufbeantworter abgehört habe.«
    Marcus machte eine weit ausholende Geste. »Wo sind wir hier?«
    »Gegen Ende des sechzehnten Jahrhunderts begann die Confraternità dell ’ Orazione e Morte, also die Bruderschaft des Gebets und des Todes, ihr frommes Werk. Es bestand
darin, namenlosen Toten, die in und um Rom aufgefunden oder aus dem Tiber
gezogen wurden, ein würdiges Begräbnis zu verschaffen: Selbstmördern,
Mordopfern, aber auch einfach nur an Erschöpfung Gestorbenen. In dieser Gruft
befinden sich die Überreste von achttausend solcher Menschen.«
    Clemente war viel zu gelassen. Marcus hatte die Ereignisse der
letzten Nacht in seiner Botschaft kurz für ihn zusammengefasst. Trotzdem schien
sein Freund kein bisschen verstört über dieses dramatische Nachspiel zu sein.
»Warum werde ich den Eindruck nicht los, dass dich das, was ich dir zu sagen
habe, überhaupt nicht interessiert?«
    »Weil wir längst Bescheid wissen.«
    Clementes freundlicher Tonfall machte ihn wütend. »Wer ist wir? Du
sprichst in der Mehrzahl, willst mir aber nicht sagen, wer damit gemeint ist.
Wer steht über dir? Ich habe ein Recht, das zu wissen!«
    »Du weißt, dass ich dir das nicht sagen darf. Aber ich bin sehr
zufrieden mit dir.«
    Marcus war frustriert. »Zufrieden womit? Ich musste Jeremiah töten,
Lara ist nach wie vor verschwunden, und zu allem Überfluss habe ich heute Nacht
nach einem Jahr des totalen Gedächtnisverlusts meine erste Erinnerung wiedergefunden … Ich habe auf Devok

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