Der Seelensammler
geschlossenen Räumen gefährlicher war als im Freien:
Radioaktivität konzentriert sich vor allem auf Materie.
Auf dem Weg zu den oberen Stockwerken konnte er sehen, was von den
Wohnungen übrig geblieben war. An dem, was die Plünderer verschont hatten,
konnte man genau ablesen, was sich hier kurz vor der Evakuierung abgespielt
hatte: ein zur Hälfte verzehrtes Mittagessen. Eine nie beendete Schachpartie.
Wäsche, die zum Trocknen auf die Heizung gelegt worden war. Ein ungemachtes
Bett. Die Stadt war ein gigantisches kollektives Gedächtnis, dem jeder, der überstürzt
geflohen war, seine Erinnerungen überlassen hatte: Fotoalben, kostbare
persönliche Gegenstände, Familienandenken – sie alle warteten auf eine
Rückkehr, die nie stattfinden würde. Alles war in der Schwebe geblieben, zu
einer Art leeren Kulisse geworden – nach Ende der Vorstellung, wenn die Schauspieler
die Bühne längst verlassen haben und klar ist, dass alles nur Fiktion war. Eine
traurige Allegorie auf das Leben und den Tod, und zwar auf beides gleichzeitig.
Der Inbegriff dessen, was war und nie wieder sein würde.
Experten zufolge durfte der Mensch in den nächsten hunderttausend
Jahren keinen Fuß mehr nach Prypjat setzen.
Gleich nachdem der Jäger die Wohnung der Karoliszyns betreten hatte,
sah er, dass sie fast unangetastet geblieben war. Ein schmaler Flur führte zu
drei Zimmern, Küche und Bad. Die Tapete hatte sich an mehreren Stellen von der
Wand gelöst, von der Feuchtigkeit besiegt. Staub bedeckte alles wie ein
durchsichtiges Leintuch. Der Jäger begann mit seinem Rundgang.
Das Schlafzimmer von Konstantin und Anja war perfekt aufgeräumt. Im
Schrank hingen noch Kleider.
In Dimas Zimmer stand ein Feldbett neben dem Kinderbett.
Und in der Küche war der Tisch für vier gedeckt.
Im Wohnzimmer standen leere Wodkaflaschen. Der Jäger wusste, warum:
Als man in der Stadt von dem Unfall erfuhr, verbreiteten die Behörden die Lüge,
dass Alkohol die Strahlung abmilderte. In Wahrheit war das nur eine raffinierte
Methode, den Willen der Bevölkerung zu brechen und Demonstrationen zu
verhindern. Auf dem Tisch entdeckte er vier Gläser. Dass sich diese Zahl
ständig wiederholte, konnte nur eines bedeuten: Die Karoliszyns hatten einen
Gast gehabt.
Der Jäger ging auf ein Möbelstück zu, auf dem ein Bilderrahmen
stand. Darin befand sich ein Familienfoto von einer Frau, einem Mann und einem
Kind.
Aber die Gesichter waren unkenntlich gemacht worden.
Als der Jäger kehrtmachte, sah er, dass vier Paar Schuhe vor der
Wohnungstür standen. Männerschuhe, Frauenschuhe und zwei Paar Kinderschuhe.
Daraus schloss er, dass der Verwandlungskünstler direkt nach dem
Reaktorunglück in die Wohnung gekommen war. Die Karoliszyns wussten nicht, wer
er war, und hatten ihn bei sich aufgenommen. In all dem Chaos hatten sie ein einsames,
verängstigtes Kind nicht den Behörden übergeben wollen.
Sie konnten ja nicht ahnen, welches Monster sie sich da ins Haus
geholt hatten! Also hatten sie ihm etwas zu essen gegeben und es bei Dima im
Zimmer schlafen lassen. Aber dann musste etwas passiert sein, vielleicht noch
in derselben Nacht. Die Familie Karoliszyn war spurlos verschwunden, und der Verwandlungskünstler
war an Dimas Stelle getreten.
Wo waren die Leichen geblieben? Aber vor allem: Wer war dieses Kind?
Wo war es auf einmal hergekommen?
Die Dunkelheit machte sich bereits über die Stadt her. Bevor der
Jäger die Wohnung verließ, zog er eine Taschenlampe aus seinem Rucksack. Er
würde am nächsten Tag wiederkommen, zur gleichen Uhrzeit. Die Nacht würde er
nicht hier verbringen.
Auf dem Weg zur Treppe quälte ihn eine weitere Frage.
Warum ausgerechnet die Karoliszyns?
Darüber hatte er bisher noch gar nicht nachgedacht. Der
Verwandlungskünstler hatte diese Familie bestimmt nicht grundlos ausgewählt.
Das war kein Zufall gewesen.
Weil er nicht von weit her kam. Er stammte
nicht von Gott weiß woher, sondern ganz aus der Nähe.
Der Jäger richtete die Taschenlampe auf die Nachbarwohnung der
Karoliszyns. Sie war verschlossen.
Auf einem Messingschild stand der Name Anatolij Petrow.
Er sah auf die Uhr. Draußen war es bereits dunkel, und er würde
ohnehin mit ausgeschalteten Scheinwerfern fahren müssen, damit ihn die
ukrainischen Wachen, die die verbotene Zone beaufsichtigten, nicht entdeckten.
So gesehen, konnte er auch noch ein bisschen bleiben. Die Vorstellung, der
Wahrheit so nah zu sein, erregte ihn und verführte ihn dazu, die
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