Der Seelensammler
geschossen.«
Clemente holte weit aus: »Im Todestrakt eines Hochsicherheitsgefängnisses
gibt es einen Häftling, der ein furchtbares Verbrechen begangen hat und seit
zwanzig Jahren auf seine Hinrichtung wartet. Vor fünf Jahren wurde bei ihm ein
Gehirntumor festgestellt. Als man ihn entfernte, verlor er das Gedächtnis. Er
musste alles neu lernen. Nach der Operation kam es ihm seltsam vor, wegen eines
Verbrechens im Gefängnis zu sitzen, an das er sich nicht erinnern konnte. Jetzt
behauptet er, ein ganz anderer Mensch zu sein als der Mehrfachmörder. Ja, er
beteuert sogar, gar nicht in der Lage zu sein, jemanden umzubringen. Er hat um
Begnadigung gebeten, weil sonst ein Unschuldiger hingerichtet würde. Die
Psychiater sagen, das sei nicht nur ein Trick, um der Todesstrafe zu entgehen –
der Mann sei tatsächlich aufrichtig. Aber das eigentliche Problem ist ein ganz
anderes: Wenn der Einzelne für seine Handlungen verantwortlich ist, wo ist dann
seine Schuld anzusiedeln? Ist sie in seinen Körper, in seine Seele oder in
seine Identität eingeschrieben?«
Auf einmal dämmerte es Marcus: »Ihr habt die ganze Zeit über
gewusst, was ich in Prag getan habe!«
Clemente nickte und fuhr dann fort: »Als du Devok umgebracht hast,
hast du eine Todsünde begangen. Aber weil du dich nicht mehr daran erinnern
konntest, konntest du sie nicht beichten. Gleichzeitig war es nun so, als
hättest du sie gar nicht begangen, und deshalb wurde dir vergeben.«
»Und deshalb hast du mir das alles verheimlicht!«
»Wie lautet der Satz, den die Pönitenziare immer wiederholen?«
Marcus dachte an die Litanei, die er auswendig gelernt hatte. »Es
gibt einen Ort, an dem das Reich des Lichts auf das der Finsternis trifft. Dort
spielt sich alles ab. Im Reich der Schatten, wo alles schemenhaft,
ununterscheidbar, ungewiss ist. Wir sind die Wächter, die diese Grenze verteidigen.
Aber manchmal mogelt sich jemand an uns vorbei … Dann muss ich ihn in die
Finsternis zurückjagen.«
»Als ständige Grenzgänger zwischen diesen beiden Reichen haben manche
Pönitenziare einen fatalen Schritt getan: Sie wurden von der Finsternis
verschluckt und nicht mehr freigegeben.«
»Willst du damit sagen, dass mir das Gleiche passiert ist wie
Jeremiah, bevor ich das Gedächtnis verlor?«
»Nein, nicht dir. Devok.«
Marcus brachte kein Wort mehr heraus.
»Er kam mit der Pistole ins Hotelzimmer. Du hast ihn nur entwaffnet
und versucht, dich zu verteidigen. Es gab ein Handgemenge, und dann haben sich
Schüsse gelöst.«
»Woher wisst ihr, was vorgefallen ist? Ihr wart schließlich nicht
dabei!«, protestierte er.
»Bevor ich nach Prag kam, hat Devok gebeichtet. Culpa
gravis 785-34-15: Ungehorsam gegenüber Anordnungen des Papstes, Verrat
an der Kirche. Bei dieser Gelegenheit hat er gestanden, dass es den verbotenen
Pönitenziar-Orden noch gibt. Wahrscheinlich ahnte er, dass irgendetwas
schieflief: Geheimnisse aus dem Archiv waren nach außen gedrungen, vier junge
Frauen waren entführt und ermordet worden, außerdem sorgte jemand dafür, dass
sämtliche Ermittlungen im Sande verliefen. Padre Devok begann, an seinen
Männern zu zweifeln.«
»Wie viele Pönitenziare gibt es?«
Clemente seufzte. »Das wissen wir leider nicht. Aber wir hoffen,
dass sie sich früher oder später freiwillig melden. Bei seiner Beichte wollte
Devok keine Namen nennen. Er sagte nur: »Ich habe einen Fehler begangen und
muss ihn wiedergutmachen.«
»Warum kam er zu mir?«
»Wir glauben, dass er euch alle umbringen wollte. Du solltest der
Erste sein.«
Als Marcus begriff, was vorgefallen war, konnte er es kaum fassen.
»Devok wollte mich umbringen?«
Clemente legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Es tut mir leid. Ich
hatte gehofft, dir das ersparen zu können.«
Marcus starrte in die leeren Augenhöhlen eines Schädels in der
Krypta. Was war das wohl für ein Mensch gewesen? Wie hatte er geheißen, wie
ausgesehen? War er jemals geliebt worden? Wie war er gestorben und warum? War
er ein guter oder ein böser Mensch gewesen?
Wäre es Devok gelungen, ihn zu töten, hätte man seinen sterblichen
Überresten die gleichen Fragen stellen können. Denn wie alle Pönitenziare besaß
auch er keine Identität.
Mich gibt es gar nicht.
»Bevor Jeremiah Smith starb, hat er gesagt: ›Je mehr Böses ich tue,
desto besser werde ich darin, es aufzuspüren.‹ Und deshalb frage ich mich: Warum
kann ich mich nicht mehr an die Stimme meiner Mutter erinnern, weiß aber genau,
wie man das
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