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Der Seelensammler

Der Seelensammler

Titel: Der Seelensammler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donato Carrisi
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Böse enttarnt? Warum habe ich alles andere vergessen, nicht aber
diese Begabung? Sind uns Gut und Böse angeboren, oder hängen sie von unserem
jeweiligen Lebensweg ab?« Marcus musterte seinen Freund. »Bin ich gut oder
böse?«
    »Du weißt jetzt, dass du eine Todsünde begangen hast, als du Devok
und später Jeremiah getötet hast. Deshalb musst du zur Beichte gehen und dich
dem Seelentribunal stellen. Aber ich bin mir sicher, dass man dir vergeben
wird. Kommt man mit dem Bösen in Berührung, kann es vorkommen, dass es
abfärbt.«
    »Und Lara? Jeremiah hat sein Geheimnis mit ins Grab genommen. Was
wird nun aus dem armen Mädchen?«
    »Dein Job endet hier, Marcus.«
    »Sie ist schwanger!«
    »Wir können sie nicht retten.«
    »Und ihr Kind hat nicht die geringste Chance. Nein, das kann ich
nicht akzeptieren!«
    »Schau dich hier um!« Clemente zeigte auf das Beinhaus. »Der Sinn
und Zweck dieses Ortes besteht in Erbarmen, darin, den Namenlosen ein christliches
Begräbnis zukommen zu lassen, und zwar unabhängig davon, wer sie waren und was
sie in ihrem Leben getan haben. Ich wollte dich hier treffen, damit du mit dir
selbst auch ein wenig Erbarmen hast. Lara wird sterben, aber das ist nicht
deine Schuld. Also hör auf, dich so zu quälen! Wenn du dir nicht selbst
vergibst, kann dir auch die Absolution vonseiten des Seelentribunals nicht
weiterhelfen!«
    »Und jetzt bin ich frei? So habe ich mir das eigentlich nicht
vorgestellt. Es fühlt sich längst nicht so gut an wie erhofft.«
    »Ich habe noch einen Auftrag für dich.« Clemente lächelte.
»Vielleicht erleichtert dir das die Sache ein wenig.« Er reichte ihm eine Akte
aus dem Archiv.
    Marcus nahm sie entgegen und las auf dem Deckel: c.g.
294-21-12.
    »Lara hast du nicht gerettet. Aber vielleicht kannst du dieses
Mädchen noch retten.«

9 Uhr 02
    Auf der Intensivstation spielte sich eine surreale Szene
ab. Die Polizisten und Spurensicherungstechniker nahmen die üblichen
Untersuchungen vor, um den Ablauf der Morde zu rekonstruieren – allerdings in
Gegenwart der Komapatienten, die sich in der Kürze der Zeit nicht verlegen
ließen. Da sie die Ermittlungen nicht beeinträchtigen konnten, hatte man sie
einfach gelassen, wo sie waren. Mit der Folge, dass die Beamten besonders
diskret vorgingen und sich nur im Flüsterton unterhielten, so als hätten sie
Angst, jemanden zu wecken.
    Während Sandra ihre Kollegen von einem Stuhl im Flur aus
beobachtete, schüttelte sie nur den Kopf. War sie etwa die Einzige, die das
idiotisch fand? Die Ärzte hatten darauf bestanden, sie zur Beobachtung im
Krankenhaus zu behalten, doch sie hatte bereits ihre Entlassungspapiere unterschrieben.
Sie fühlte sich nicht besonders wohl, wollte aber nach Mailand zurückkehren und
ihr Leben wieder in den Griff bekommen, einen Neuanfang wagen.
    Marcus!, flüsterte sie und dachte an den Pönitenziar mit der Narbe
an der Schläfe zurück. Gern hätte sie noch einmal mit ihm gesprochen, versucht
zu verstehen. Während sie dabei war zu ersticken, hatte ihr seine zärtliche
Geste die Kraft zum Durchhalten gegeben. Und sie fand, dass er das wissen
sollte.
    Jeremiah Smith war in einem schwarzen Leichensack abtransportiert
worden. Er war an ihr vorbeigetragen worden, und sie hatte festgestellt, dass
sie rein gar nichts für diesen Mann empfand. In dieser Nacht war Sandra dem Tod
begegnet. Und das hatte genügt, um sich von Hass, Groll und Rachegelüsten zu
befreien. Denn in diesem Moment hatte sie sich David sehr nahe gefühlt.
    Monica, die mutige Ärztin, hatte es geschafft, sie dem Tod zu
entreißen. Anschließend hatte sie der Polizei ihre Version des Geschehens
erzählt, wobei sie Marcus unterschlug und behauptete, selbst auf Jeremiah
geschossen zu haben. Mit großem Geschick hatte sie Marcus’ Fingerabdrücke von
der Pistole entfernt und sie mit ihren eigenen versehen. Es sei keine Rache,
sondern Notwehr gewesen. Und so, wie es aussah, schien man ihr zu glauben.
    Sandra sah, dass Monica ihr nach der x-ten Vernehmung entgegenkam.
Sie wirkte kein bisschen mitgenommen, sondern fast fröhlich.
    »Und? Wie geht es dir?«
    »Gut!«, erwiderte Sandra und räusperte sich. Wegen des Beatmungsschlauchs,
der in ihrem Rachen gesteckt hatte, klang ihre Stimme noch heiser, und jede
Faser ihres Körpers tat ihr weh. Aber zumindest war diese furchtbare Lähmung
abgeklungen. Eine Anästhesistin hatte dafür gesorgt, dass die Wirkung des
Succinylcholins langsam nachließ. Es war wie eine Wiederauferstehung

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