Der Seelensammler
gewesen.
»›Was dich nicht umbringt, macht dich stark.‹ Das hat doch dein Vater immer
gesagt, oder?«
Sie lachten. Monica war nach ihrem üblichen Abendbesuch noch einmal
spontan auf die Intensivstation zurückgekehrt. Sandra hatte sie nicht nach dem
Grund dafür gefragt. Und Monica hatte ihr gesagt, dass sie auch nicht wisse,
was sie dazu veranlasst habe. »Vielleicht lag es an dem Gespräch, das wir
vorher geführt hatten. Keine Ahnung.«
Sandra wusste nicht, ob sie ihr, dem Schicksal oder jemand ganz
anderem danken sollte, der da oben ab und zu nach dem Rechten sah. Ob das nun
Gott oder ihr Mann war, spielte dabei keine Rolle.
Monica beugte sich vor und umarmte Sandra. Jedes weitere Wort war
überflüssig. Sie verharrten eine Weile so, bis sich die junge Ärztin zu einem
Abschiedskuss auf die Wange hinreißen ließ.
Sandra sah ihr zerstreut nach und merkte gar nicht, dass Comissario
Camusso auf sie zukam.
»Braves Mädchen!«, lobte er.
Sandra musterte ihn. Er war ganz in Hellblau gekleidet. Jackett,
Hose, Hemd und Krawatte waren perfekt aufeinander abgestimmt. Sie hätte
gewettet, dass seine Socken auch dazu passten. Die einzige Ausnahme bildeten
seine weißen Mokassins. Wären die Schuhe und der Kopf nicht gewesen, wäre
Camusso in der in Blau gehaltenen Intensivstation kaum zu sehen gewesen, wie
ein Chamäleon.
»Ich habe mit Ihrem Vorgesetzten De Michelis gesprochen. Er kommt
aus Mailand her und holt Sie ab.«
»Nein, das darf doch nicht wahr sein! Warum haben Sie ihm das nicht
ausgeredet? Ich hatte vor, heute Abend abzureisen.«
»Er hat mir eine nette Geschichte über Sie erzählt.«
Sandra befürchtete das Schlimmste.
»Und so, wie es aussieht, hatten Sie recht, Signora Vega.
Kompliment!«
Sie war sprachlos. »Wovon sprechen Sie?«
»Von der Sache mit der Gasheizung und dem Kohlenmonoxid: der Mann,
der nach dem Duschen Frau und Kind erschießt, anschließend ins Bad zurückkehrt,
das Bewusstsein verliert, sich den Kopf anschlägt und stirbt.«
Die Zusammenfassung stimmte, aber wie war es ausgegangen? »Hat der
Gerichtsmediziner meine These in Betracht gezogen?«
»Er hat sie nicht nur in Betracht gezogen, sondern voll und ganz
bestätigt.«
Sandra konnte es kaum glauben. Das brachte die Dinge zwar auch nicht
wieder in Ordnung, aber es war tröstlich, die Wahrheit zu kennen. Auch in Bezug
auf David, dachte sie. Jetzt, da sie wusste, wer ihn ermordet hatte, konnte sie
endlich loslassen.
»War Ihnen bewusst, dass sämtliche Abteilungen der Poliklinik über
ein Videoüberwachungssystem verfügen?«
Camusso gelang es, sie mit diesem Satz völlig zu überrumpeln, und
Sandra erstarrte, weil sie gar nicht an diese Möglichkeit gedacht hatte.
Monicas Version des Geschehens, die sie selbst anschließend bestätigt hatte,
drohte damit aufzufliegen. »Konnten Sie die Aufnahmen bereits sichten?«
Der Commissario verzog bedauernd das Gesicht. »Anscheinend hat das
Gewitter das Überwachungssystem auf der Intensivstation lahmgelegt. Deshalb
gibt es keine Aufnahmen. Was für ein Pech aber auch!«
Sandra versuchte, sich ihre Erleichterung nicht anmerken zu lassen.
Aber Camusso war noch nicht fertig: »Sie wissen, dass die Gemelli-Klinik
eng mit dem Vatikan verbunden ist?«
Das war nicht nur so dahingesagt, sondern enthielt eine Unterstellung,
die Sandra geflissentlich ignorierte.
»Warum erzählen Sie mir das?«
Der Polizist zuckte mit den Schultern, sah sie schräg von der Seite
an und vertiefte das Thema nicht weiter. Sandra erhob sich von ihrem Stuhl.
»Könnten Sie jemanden bitten, mich zum Hotel zu fahren?«
»Das übernehme ich höchstpersönlich«, erwiderte Camusso. »Hier gibt
es nichts mehr für mich zu tun.«
Sandra überspielte ihre Enttäuschung mit einem gezwungenen Lächeln.
»Gut, aber zuerst möchte ich noch wo vorbeischauen.«
Der Commissario besaß einen alten, top gepflegten Lancia
Fulvia. Als Sandra einstieg, hatte sie das Gefühl, eine Reise in die
Vergangenheit zu unternehmen. Die Innenausstattung roch brandneu. Es regnete
und regnete, aber die Karosserie glänzte.
Camusso fuhr sie zu der gewünschten Adresse. Während der Fahrt
hörten sie einen Radiosender, der ausschließlich Schlager aus den Sechzigern
spielte. Sie fuhren durch die Via Veneto, und Sandra fühlte sich in die Zeit
der Dolce Vita versetzt.
Die Reise endete vor dem Haus, in dem sich die Interpolwohnung
befand.
Während Sandra die Treppen hinauflief, hoffte sie inständig,
Schalber anzutreffen. Sie
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