Der Seelensammler
Er gab der
Kellnerin ein Zeichen, dass er zahlen wollte. Ein Zeitungsjunge bot die
Abendausgabe an. Der Jäger kaufte ein Exemplar, obwohl er wusste, dass der Fund
von Jean Duez’ Leiche erst am nächsten Tag darin stehen würde. Deshalb hatte er
gegenüber seiner Beute einen gewissen Vorsprung. Er war aufgeregt, denn endlich
hatte das Warten ein Ende. Jetzt begann der schönste Teil der Jagd. Er brauchte
nur noch eine Bestätigung. Deshalb war er hier in diesem Bistro.
Wieder fegte ein Windstoß über die Straße und riss am Blumenstand an
der Ecke eine Wolke aus buntem Blütenstaub mit sich. Er hatte ganz vergessen,
wie schön der Frühling in Paris sein konnte.
Er bekam Gänsehaut. Innerhalb weniger Sekunden sah er seine Beute
inmitten zahlreicher Menschen die Metrorolltreppe heraufkommen. Der Mann trug
eine blaue Windjacke über einer grauen Cordhose, Turnschuhe und eine Baseballkappe.
Während er den gegenüberliegenden Bürgersteig entlanglief, ließ ihn der Jäger
nicht aus den Augen. Der Mann sah zu Boden und hatte die Hände in den Hosentaschen.
Er ahnte nicht, dass jemand Jagd auf ihn machte. Deshalb war er unachtsam, traf
keine Vorsichtsmaßnahmen. Prima!, dachte der Jäger, während seine Beute
seelenruhig auf ein grünes Tor in der Rue Lamarck zuging.
Die Kellnerin kam mit der Rechnung. »War der Pastis in Ordnung?«
»Aber sicher!«, erwiderte er mit einem Lächeln.
Und während der Jäger die Hand in die Tasche steckte, um seinen Geldbeutel
hervorzuziehen, ging Jean Duez nichts ahnend nach Hause.
—
Die Opfer werden älter, wiederholte der Jäger im Stillen.
Der Jäger war mehr oder weniger zufällig auf seine Beute gestoßen: Als er einen
Zusammenhang zwischen den gesichtslosen, über die ganze Welt verteilten Leichen
hergestellt hatte, hatte er bemerkt, dass jemand im Laufe der Jahre in ihre
Identität geschlüpft war. Je älter der Mörder wurde, desto älter wurden auch
seine Opfer, ganz so, als handelte es sich dabei um eine Art Kleidergröße.
Die Beute war ein Serienmörder, der wechselnde
Identitäten annahm.
Noch kannte er den Grund für dieses außergewöhnliche Verhalten
nicht, aber bald – sehr bald – würde er ihn erfahren.
Der Jäger näherte sich dem grünen Haustor bis auf wenige Meter. Mit
der Einkaufstüte in der Hand wartete er, bis jemand herauskam, damit er sich
hindurchschmuggeln konnte.
Endlich wurde sein Warten belohnt. Ein alter Mann, der einen braunen
Cockerspaniel ausführte, erschien im Tor. Er trug einen dicken Mantel, einen
breitkrempigen Hut und eine dicke Brille. Außerdem war er durch den Hund
abgelenkt, der ihn in Richtung Park zerrte. Bevor das Tor ins Schloss fiel,
schlüpfte der Jäger unbemerkt hindurch.
Das Treppenhaus war eng und dunkel. Er lauschte. Die Geräusche und
Stimmen aus den Wohnungen vermischten sich. Er warf einen Blick auf die
Briefkästen: Jean Duez wohnte auf dem Treppenabsatz 3Q.
Er stellte die Tüte mit den Einkäufen auf die erste Stufe, nahm das
Baguette und den Bund Petersilie heraus und holte die Beretta M92F hervor. Sie
war von der amerikanischen Armee in eine Betäubungspistole umgewandelt worden,
und er hatte sie einem Söldner in Jerusalem abgekauft. Damit das
Betäubungsmittel sofort wirkte, musste man auf Kopf, Herz oder Schritt zielen.
Man brauchte fünf Sekunden, um die Patrone zu wechseln, und das war in diesem
Fall eindeutig zu lange. Schon der erste Schuss musste ins Schwarze treffen.
Gut möglich, dass seine Beute ebenfalls eine Waffe trug – eine mit echten
Patronen. Aber das war dem Jäger egal: Ihm genügte eine Betäubungspistole.
Er wollte seine Beute lebend.
Er hatte keine Zeit gehabt, sich mit ihren Angewohnheiten vertraut
zu machen. Doch mit den Jahren hatte er gemerkt, dass sie ein Gewohnheitstier
war. So gesehen dürfte die Beute nicht groß von ihrem bisherigen Pfad
abweichen. Wenn man sich unter bestimmten Bedingungen immer gleich verhält,
fällt man am wenigsten auf. Außerdem lassen sich Situation so am besten
beherrschen: Auch das hatte der Jäger von seiner Beute gelernt. Im Grunde war sie
zu einer Art Vorbild geworden. Sie hatte ihm beigebracht, wie wichtig Disziplin
und Entsagung waren. Sie passte sich den jeweiligen Umständen an, und waren sie
auch noch so widrig. Wie diese Lebewesen, die in der Tiefsee vorkamen. Dort, wo
gar kein Licht mehr hindrang, wo Kälte und Wasserdruck jeden Menschen sofort
getötet hätten, dort, wo es eigentlich gar kein Leben geben dürfte,
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