Der Seelensammler
Polizeiprotokollen
und um Listen mit Beweisen und Verdächtigen. Alles Dokumente, die hier gar
nicht sein durften. Unter Raffaeles Notizen und persönlichen Anmerkungen
befanden sich auch die Berichte eines Privatermittlers. Marcus entdeckte die
Visitenkarte einer Detektei auf dem Schreibtisch.
»Ranieri«, murmelte er leise vor sich hin, als er den darauf
gedruckten Namen las.
Raffaele hatte ihn erwähnt: »Schickt dich Ranieri? Sag dem Mistkerl,
dass ich nichts mehr mit ihm zu tun haben will.«
Marcus steckte die Visitenkarte ein, sah dann wieder zu der Artikelcollage
an der Wand hinüber und versuchte sich einen schnellen Überblick zu
verschaffen. Wie viel ein gewitzter Privatdetektiv einem Jungen mit einer fixen
Idee wohl abknöpfte?
Mit der Idee, die Mörder seiner Mutter zu finden.
Die Zeitungsausschnitte, Berichte und Dokumente bewiesen, dass er
regelrecht besessen davon war. Raffaele wollte den Monstern, die seine Kindheit
zerstört hatten, ein Gesicht geben. Normalerweise hatten Kinder imaginäre
Feinde aus Luft, Staub und Schatten, dachte Marcus. Feinde wie den schwarzen
Mann oder den bösen Wolf. Aber die lebten in einer Märchenwelt, die sie nur
verließen, wenn sie von den Eltern herbeizitiert wurden. Danach verschwanden
sie wieder in dem Schatten, der sie hervorgebracht hatte.
Doch Raffaeles Ungeheuer waren geblieben.
Marcus musste noch etwas wissen: Er suchte nach einer Erklärung für
das Symbol, das der Junge in Laras Wohnung erwähnt hatte: die drei roten Punkte
am Ende des Briefes.
»Und was soll das Symbol? Niemand wusste etwas von dem Symbol!«,
hatte Raffaele gesagt.
Marcus gelang es, die Akte der Staatsanwaltschaft zu finden, in der
es genau darum ging. Doch darin gab es Lücken. Dafür gab es eine logische
Erklärung: Manchmal ließen die Ermittler einige Details weg, um sie vor der
Presse oder der Öffentlichkeit geheim zu halten. Das half ihnen dabei, falsche
Zeugenaussagen oder Trittbrettfahrer zu entlarven. Außerdem ließ man die Täter
so in dem Glauben, man hätte nichts gegen sie in der Hand. Im Mordfall Valeria
Altieri hatte man etwas Wichtiges am Tatort gefunden. Etwas, was die Polizei
aus irgendeinem Grund geheim halten wollte.
Noch immer hatte Marcus keine Ahnung, was das alles mit Jeremiah
Smith und Laras Verschwinden zu tun haben konnte. Dieses Verbrechen lag
neunzehn Jahre zurück, und selbst wenn die Polizei Beweise übersehen hatte,
waren sie inzwischen für immer verloren.
Der Tatort existierte längst nicht mehr.
Marcus sah auf die Uhr: Er war schon seit zwanzig Minuten hier und
wollte kein weiteres gewaltsames Aufeinandertreffen mit Raffaele riskieren.
Allerdings musste er noch einen Blick in das Schlafzimmer werfen, in dem
Valeria Altieri ermordet worden war. Wie mochte der Raum jetzt aussehen?
Als er ihn betrat, begriff er sofort, dass er sich geirrt hatte.
Als Erstes sah er das Blut.
Das Ehebett mit der hellblauen Bettwäsche war davon durchtränkt. Es
war so viel, dass man sehen konnte, wie die Opfer während des Massakers
dagelegen hatten. Ihre Umrisse waren von der Matratze und den Kissen
konserviert worden. Die beiden hatten nebeneinandergelegen und sich umarmt, als
die Mörder wie von Sinnen auf sie einstachen.
Vom Bett aus hatte sich das Blut wie Lava auf dem weißen Teppich
ausgebreitet. Es hatte die Fasern getränkt und ihn dermaßen grellrot
eingefärbt, dass er den Tod an sich symbolisierte.
Die von der Hand, die das Messer geführt und auf das wehrlose
Fleisch eingestochen hatte, überall an der Wand verteilten Blutspritzer zeugten
von Wut, Hast und körperlicher Anstrengung. Unheimlich daran war vor allem die
gleichmäßige Anordnung der Spritzer. Eine abartige Symmetrie, gespeist von
grenzenlosem Hass.
Ein Teil des Blutes war anschließend für eine Inschrift an der Wand
über dem Bett verwendet worden. Sie bestand aus einem einzigen Wort.
EVIL.
Englisch für »Böse«.
Nichts war verändert, gleichzeitig wirkte die Szene fast zu echt, um
wahr zu sein. So als wären die Morde gerade erst passiert. Marcus hatte das
Gefühl, mit dem Betreten des Raumes eine Zeitreise unternommen zu haben.
Das ist doch nicht möglich!, dachte er.
Es war tatsächlich unmöglich, das Zimmer so zu konservieren, wie es
an jenem tragischen Tag vor neunzehn Jahren ausgesehen hatte.
Dafür gab es nur eine Erklärung, die Marcus in den aufeinandergestapelten
Farbeimern und Pinseln bestätigt fand. Hinzu kamen die Fotos der
Spurensicherung, die sich Raffaele
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