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Der Seelensammler

Der Seelensammler

Titel: Der Seelensammler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donato Carrisi
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Vergrößerer und die Dose für das Entwickeln und Fixieren vom
Dachboden geholt. Ansonsten hatte sie improvisiert. In den drei Schüsseln, die
sie jetzt fürs Entwickeln benutzte, wusch sie normalerweise ihre Unterwäsche
aus. Aus der Küche hatte sie eine Zange, eine Schere und einen Löffel geholt.
Das Fotopapier und die Chemikalien, die David auf Vorrat lagerte, hatten das
Haltbarkeitsdatum noch nicht überschritten und waren daher noch brauchbar.
    In der Leica I befand sich ein 135–35-mm-Film. Sandra spulte ihn
zurück und nahm ihn aus seinem Fach.
    Für die nächsten Handgriffe brauchte sie absolute Dunkelheit. Sie
streifte sich Handschuhe über und zog den Film aus der Filmdose. Blind
entfernte sie das erste Stück mit der Schere, rundete die Ecken etwas ab und
steckte den Film in die Spirale der Entwicklerdose. Sie gab den vorbereiteten
Entwickler dazu und achtete auf die Zeit. Dann wiederholte sie den Vorgang erst
mit dem Stoppbad und dann mit dem Fixierer. Anschließend spülte sie alles unter
fließendem Wasser ab, gab etwas Shampoo in die Dose, weil sie kein Netzmittel
hatte, und hängte den Film schließlich über der Badewanne zum Trocknen auf.
    Sie stellte den Timer ihrer Uhr und lehnte sich mit dem Rücken an
die Fliesen. Sie seufzte. Dieses Warten im Dunkeln war nervenzermürbend. Sie
fragte sich, warum David die alte Kamera zum Fotografieren benutzt hatte.
Gleichzeitig wünschte sie sich, nichts Dramatisches zu entdecken.
Wahrscheinlich rührten ihre Zweifel einfach nur daher, dass sie sich nicht mit
diesem sinnlosen Tod arrangieren konnte.
    Sandra wollte ahnungslos bleiben.
    David hat die Leica nur benutzt, um sie mal wieder auszuprobieren!,
redete sie sich ein. Obwohl sie die Leidenschaft fürs Fotografieren teilten,
sie sogar zu ihrem Beruf gemacht hatten, besaßen sie keine Fotos, auf denen sie
beide zu sehen waren. Als ihr Mann noch lebte, war das Sandra nicht sonderlich
wichtig gewesen. Soche Fotos brauchen wir nicht!, hatte sie sich gesagt. Wenn
die Gegenwart so intensiv ist, braucht man keine Vergangenheit. Sie konnte ja
nicht ahnen, dass sie überlebensnotwendige Erinnerungsvorräte hätte anlegen
müssen. Je mehr Zeit verging, desto schneller schmolzen diese Vorräte dahin. Im
Vergleich zu der Lebenszeit, die ihr statistisch noch blieb, war die gemeinsame
Zeit viel zu kurz gewesen. Was sollte sie nur mit all den noch vor ihr
liegenden Tagen anfangen? Würde sie jemals wieder in der Lage sein, etwas
Ähnliches wie für David zu empfinden?
    Das Klingeln des Timers riss sie aus ihren Gedanken. Endlich konnte
sie die rote Lampe anmachen. Sofort nahm sie den Film, den sie aufgehängt
hatte, und betrachtete ihn im Gegenlicht.
    David hatte fünf Fotos mit der Leica gemacht.
    Was er fotografiert hatte, ließ sich noch nicht erkennen. Also
machte sich daran, die Bilder zu belichten. Sie bereitete die drei Schalen vor:
die erste mit dem Entwickler, die zweite mit dem Stoppbad aus Wasser und Essigsäure
und die dritte mit Wasser und Fixierer.
    Mithilfe des Vergrößerers projizierte sie die Negative auf das
Fotopapier und belichtete es auf diese Weise. Dann legte sie das erste Blatt in
die Schale mit dem Entwickler. Sie schwenkte es leicht hin und her, und nach
und nach kristallisierte sich ein Bild heraus.
    Es war dunkel.
    Sie glaubte an einen Fehler, legte es aber trotzdem in die beiden
anderen Schalen, wässerte es und hing es dann mit einer Wäscheklammer über der
Wanne auf. Das Gleiche tat sie mit den anderen Negativen.
    Auf dem zweiten Foto war David mit nacktem Oberkörper in einem
Spiegel zu sehen. Mit der einen Hand hielt er sich die Kamera vors Gesicht, mit
der anderen winkte er. Aber er lächelte nicht, sondern war ganz ernst. Hinter
ihm hing ein Kalender, er zeigte den Monat an, in dem er gestorben war.
Wahrscheinlich war das das letzte Foto vom noch lebenden David, dachte Sandra.
    Die traurige Abschiedsgeste eines Gespensts.
    Das dritte Foto zeigte eine Baustelle. Die nackten Betonpfeiler
eines Rohbaus waren zu erkennen. Die Wände fehlten noch, um die Pfeiler herum
war nichts als Leere. Sandra nahm an, dass das Foto in dem Gebäude aufgenommen
worden war, von dem David gestürzt war – vor dem Sturz natürlich.
    Warum war er mit der Leica dorthin gegangen?
    Davids Unfall hatte sich nachts ereignet, doch dieses Bild war
tagsüber aufgenommen worden. Vielleicht hatte er eine Ortsbegehung gemacht.
    Das vierte Foto war äußerst merkwürdig. Es zeigte ein Gemälde,
vermutlich aus dem

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