Der Seelensammler
dazugehörigen
Seiten standen etwa zwanzig Adressen, die er anschließend auf dem Stadtplan
markiert hatte. Deshalb hatte er also das Funkgerät gebraucht: um den Polizeifunk
abzuhören. Jedes Mal, wenn die Zentrale eine Straftat meldete, hatte sich David
an Ort und Stelle begeben.
Aber warum? Wonach hatte er gesucht?
Sandra schlug den Kalender bei der ersten Adresse auf. Sie gab sie
mit dem dazugehörigen Datum in die Suchmaske auf ihrem Bildschirm ein. Es
dauerte nur wenige Sekunden, und sie bekam ein Ergebnis.
»Via Erode Attico. Mord an einer Frau durch ihren Lebensgefährten.«
Sie öffnete das Dokument und las sich das kurze Polizeiprotokoll
durch. Es handelte sich um einen eskalierten Beziehungsstreit. Der Mann, ein
Italiener, hatte seine peruanische Lebensgefährtin erstochen und war
anschließend geflohen. Er war nach wie vor auf freiem Fuß. Sandra verstand
nicht, was David daran interessiert haben könnte, und beschloss, eine weitere
Adresse samt Datum einzugeben.
»Via dell’Assunzione. Raub und Körperverletzung mit Todesfolge.«
Eine alte Frau war in ihrer Wohnung überfallen worden. Die Diebe
hatten sie gefesselt und geknebelt, die Frau war erstickt. Sandra versuchte
eine Verbindung zu dem Fall in der Via Erode Attico herzustellen, doch trotz
aller Bemühungen gelang es ihr nicht. Tatorte, Täter und Opfer hatten nichts
miteinander gemeinsam, und das Gleiche galt für die Umstände, unter denen die
Menschen gewaltsam zu Tode gekommen waren. Sandra machte mit einer neuen
Adresse und einem neuen Datum weiter.
»Corso Trieste. Mord infolge einer Schlägerei.« Diese hatte sich nachts
an einer Bushaltestelle ereignet. Zwei Wildfremde hatten sich aus
unerfindlichen Gründen geprügelt, bis einer der beiden ein Messer zückte.
Und was hat das jetzt mit den anderen Fällen zu tun?, fragte sich
Sandra zunehmend frustriert.
Zwischen den drei Taten war beim besten Willen kein Zusammenhang zu
erkennen, auch nicht mit denen, die sie anschließend recherchierte. Bei jedem
Verbrechen hatte es einen oder mehrere Todesfälle gegeben. Manche waren aufgeklärt
worden, andere nicht.
Alle waren sie jedoch vom Polizeifotografen dokumentiert worden.
Sandras Beruf bestand darin, den Tatort auf Fotos festzuhalten. Das
Aktenstudium lag ihr weniger. Sie bevorzugte eine visuelle Herangehensweise,
und da den verschiedenen Fällen Fotos beigelegt waren, beschloss sie, sich auf
die Schnappschüsse ihrer Kollegen zu konzentrieren.
Doch das waren eine ganze Menge: Bei zwanzig Morden bedeutete das
Hunderte von Fotos! Sie begann, sie auf dem Bildschirm aufzurufen. Ohne zu
wissen, was David interessiert hatte, würde sie das Tage beschäftigen. Leider
hatte er ihr keine weiteren Angaben hinterlassen.
Verdammt noch mal, Fred, wozu die Geheimniskrämerei? Warum konntest
du mir keine klaren Handlungsanweisungen geben? War das zu viel verlangt, mein
Schatz?
Sie war nervös, hungrig und hatte in den letzten vierundzwanzig
Stunden kein Auge zugetan. Seit sie auf dem Revier war, musste sie auf die
Toilette. Am Vortag hatte ein Interpolbeamter ihr Vertrauen in ihren Mann
erschüttert. Anschließend hatte sie feststellen müssen, dass David nicht bei
einem Unfall ums Leben gekommen, sondern ermordet worden war. Der Mörder hatte
ihr gedroht, indem er das Lied, das sie mit den schönsten Erinnerungen
überhaupt verband, in einen makaberen Trauergesang verwandelt hatte.
Das war alles ein bisschen viel für einen Tag.
Draußen begann es erneut zu regnen. Erschöpft ließ Sandra den Kopf
auf den Schreibtisch sinken. Sie schloss kurz die Augen und hörte auf zu
denken. Eine riesige Verantwortung lastete auf ihr. Für Gerechtigkeit zu
sorgen, ist nie leicht, aber genau deshalb hatte sie sich für diesen Beruf
entschieden. Doch Teil des Polizeiapparats zu sein und seinen Job zu machen,
war etwas ganz anderes, als vollkommen allein zu ermitteln.
Ich schaff das einfach nicht!, dachte sie.
In diesem Moment vibrierte ihr Handy. Das Geräusch hallte im leeren
Raum wider und ließ sie zusammenzucken.
»Ich bin’s, De Michelis. Ich weiß jetzt alles.«
Kurz befürchtete sie, ihr Vorgesetzter wisse, dass sie sich zu
Unrecht auf ihn berufen hatte und ohne Dienstbefehl hier im Archiv war.
»Ich kann dir alles erklären!«, sagte sie rasch.
»Wie bitte? … Nein, nein, lass mich erst ausreden: Ich habe das
Gemälde gefunden!«
Die Euphorie in der Stimme des Ispettore konnte sie wieder
beruhigen.
»Das Kind, das entsetzt flieht, stammt
Weitere Kostenlose Bücher