Der Seelensammler
ich für Sie tun, Agente Vega?«, fragte er kauend.
Den Krümeln auf seinem Hemd entnahm sie, dass er ein Brötchen aß.
Sandra setzte ihr betörendstes Lächeln auf. »Ich weiß, es ist schon
spät, aber mein Vorgesetzter hat mich heute Nachmittag nach Rom geschickt. Ich
hätte meinen Besuch vorher ankündigen müssen, aber dazu war keine Zeit.«
Der Kollege mit den roten Haaren nickte nicht allzu interessiert.
»Gut, aber worum handelt es sich genau?«
»Um eine Ermittlung.«
»Geht es um einen bestimmten Fall oder …«
»Um eine statistische Erhebung über Gewaltverbrechen und die Fähigkeit
der Polizei, ihnen entgegenzuwirken, mit Schwerpunkt auf den unterschiedlichen
Herangehensweisen in Mailand und Rom«, sagte sie atemlos.
Der Mann runzelte die Stirn. Zum einen, weil er sie nicht gerade
beneidete: Solche Aufträge waren normalerweise eine Strafarbeit, ja, beinahe
eine Schikane vonseiten des Vorgesetzten. Zum anderen, weil er den Sinn nicht
recht verstand. »Wen soll denn das interessieren?«
»Keine Ahnung, aber soweit ich weiß, muss der Questore in einigen
Tagen zu einer Konferrenz. Wahrscheinlich braucht er die Sachen für seinen
Vortrag.«
Der Polizist ahnte bereits, dass es sich um eine langwierige
Angelegenheit handelte. Und Sandra konnte ihm ansehen, dass er überhaupt keine
Lust hatte, sich seine gemütliche Abendschicht damit zu versauen.
»Kann ich bitte Ihren Dienstbefehl sehen, Agente Vega?« Er schlug
einen bürokratischen, autoritären Ton an, um eine abschlägige Antwort
einzuleiten.
Auch das hatte sie vorhergesehen. Sie näherte sich ihm vertraulich
und sagte leise: »Hör mal, Kollege, ganz unter uns: Ich habe auch keine Lust,
mir die ganze Nacht im Archiv um die Ohren zu schlagen, nur um meinen Vorgesetzten,
diesen Idioten von einem Ispettore De Michelis, glücklich zu machen.« Sie hatte
ein wahnsinnig schlechtes Gewissen, so über De Michelis zu reden. Aber da sie
keinen Dienstbefehl vorzuweisen hatte, blieb ihr nichts anderes übrig, als zu
dieser Notlüge zu greifen. »Wieso regeln wir die Sache nicht folgendermaßen:
Ich gebe dir eine Liste mit den Dingen, die du für mich recherchieren sollst,
und du arbeitest sie ab, sobald du Zeit dazu hast.«
Sandra drückte ihm ein Blatt mit Kleingedrucktem in die Hand. In
Wahrheit handelte es sich um eine Liste mit den touristischen
Sehenswürdigkeiten Roms, die ihr der Portier ihres Hotels mitgegeben hatte.
Aber sie wusste, dass ihr Kollege nur sehen musste, wie lang sie war, um sofort
abzulehnen.
Und prompt gab ihr der Polizist die Liste zurück. »Warte mal einen
Moment.«
Auch er war zum Du übergegangen. »Ich weiß gar nicht, wo ich da
anfangen soll. Wenn ich das richtig sehe, ist das eine ziemlich heikle
Recherche. Ich glaube, du bist dafür deutlich besser geeignet.«
»Aber ich weiß doch gar nicht, wie euer Archiv geordnet ist!«,
bedrängte sie ihn.
»Das ist überhaupt kein Problem, das erkläre ich dir gern; ist
kinderleicht.«
Sandra gab sich genervt. Sie verdrehte die Augen und schüttelte den
Kopf. »Von mir aus! Aber morgen muss ich wieder nach Mailand, allerspätestens
am Nachmittag. Wenn es dir also nichts ausmacht, würde ich gern sofort
anfangen.«
»Aber natürlich!«, sagte er auf einmal wieder ganz kollegial und
ging ihr voran.
Ein Saal mit zahlreichen Fresken erwartete sie. Darin standen
sechs Schreibtische und ebenso viele Computer – das war schon das ganze Archiv.
Der Karteikartenkatalog war digital erfasst worden und lag auf einem Server,
der sich zwei Stockwerke tiefer im Keller befand.
Das Gebäude, in dem sich das Polizeirevier befand, stammte aus dem
neunzehnten Jahrhundert. Sandra hatte das Gefühl, in einem Museum zu arbeiten.
Das gehört wohl auch zu den Vorteilen einer Stelle in Rom, dachte sie und
gönnte sich einen Blick an die Decke.
Sie saß an einem der Arbeitsplätze, die anderen waren unbesetzt. Das
einzige Licht kam von der Schreibtischlampe neben ihr, der Rest lag angenehm im
Halbdunkel. Weil es so still war, hallte jedes Geräusch im Raum wider,
gleichzeitig kündigte sich draußen erneut ein Gewitter an.
Sie konzentrierte sich auf den Computer vor ihr. Der Kollege mit den
roten Haaren hatte ihr in wenigen Minuten erklärt, wie sie in das System kam.
Nachdem er ihr ein provisorisches Passwort gegeben hatte, war er gleich wieder
verschwunden.
Sandra zog Davids alten Kalender mit dem Ledereinband aus der
Tasche. Ihr Mann war drei Wochen in Rom gewesen, und auf den
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