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Der Seelensammler

Der Seelensammler

Titel: Der Seelensammler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donato Carrisi
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bisher noch gar
nicht beachtet hatte. Er weckte neue Zweifel in ihr, die eine Antwort
verlangten.
    David hatte nicht das ganze Caravaggio-Gemälde fotografiert, sondern
nur einen Ausschnitt. Aber das ergab keinen Sinn: Wenn er ihr einen Hinweis
geben wollte, musste er ihr das Leben doch nicht unnötig schwermachen?
    Sandra aktivierte erneut das Fenster mit dem Gemälde. David hätte
das Bild auch aus dem Internet herunterladen oder einfach nur den Bildschirm
abfotografieren können. Stattdessen hatte er den Ausschnitt mit dem Kind
festgehalten. Er hatte ihr mitteilen wollen, dass er höchstpersönlich vor Ort
gewesen war.
    »Es gibt Dinge, die muss man mit eigenen Augen sehen, Ginger.«
    Sandra fiel wieder ein, was De Michelis gesagt hatte: Das Gemälde
befand sich in Rom in der Kirche San Luigi dei Francesi.

23 Uhr 39
    Als Marcus das erste Mal mit Clemente an einem Tatort
gewesen war, war das ausgerechnet in Rom, im EUR, gewesen. Das erste Opfer, dem
er in die Augen gesehen hatte, war eine aus dem Teich gezogene Prostituierte
gewesen. Seitdem hatte es zahlreiche andere Leichen gegeben, aber sie alle
verband dieser Blick. Darin stand eine Frage:
    Warum ich?
    Alle hatten die gleiche Überraschung, das gleiche Erstaunen gespürt.
Ungläubigkeit, gepaart mit dem unerfüllbaren Wunsch, die Zeit zurückdrehen zu
können, eine zweite Chance zu bekommen.
    Marcus war sich sicher, dass dieses Staunen nicht dem Tod an sich
galt, sondern der plötzlichen Gewissheit seiner Unumkehrbarkeit. Diese Opfer
dachten nicht: »Oh Gott, ich sterbe!«, sondern: »Oh Gott, ich sterbe und kann
nichts dagegen tun!«
    Vielleicht hatte er das auch gedacht, als man in dem Prager
Hotelzimmer auf ihn geschossen hatte. Hatte er Angst gehabt oder die
Unabwendbarkeit als tröstlich empfunden? Die Amnesie hatte die jüngsten
Erinnerungen zuerst gelöscht, beginnend mit diesen letzten Gedanken. Das erste
Bild, das sich in sein neues Gedächtnis eingebrannt hatte, war das von dem
Holzkreuz an der weißen Krankenhauswand. Er hatte es tagelang angesehen und
sich gefragt, was vorgefallen war. Die Kugel hatte die Hirnareale intakt gelassen,
in denen sich das Sprach- und das Bewegungszentrum befanden. Deshalb konnte er
sprechen und laufen. Aber er hatte nicht gewusst, was er sagen und wohin er
gehen sollte. Doch dann war auf einmal Clementes Lächeln vor ihm aufgetaucht.
Dieses junge, glatt rasierte Gesicht mit dem seitlich gescheitelten dunklen Haar
und den gütigen Augen.
    »Ich habe dich gefunden, Marcus!« Das waren seine ersten Worte
gewesen. Ein Hoffnungsschimmer und sein Name.
    Clemente hatte ihn nicht am Gesicht erkannt, da er es noch nie zuvor
gesehen hatte. Nur Devok hatte seine wahre Identität gekannt, so lauteten die
Regeln. Clemente war seinen Spuren bis nach Prag gefolgt. Devok war sein Freund
und Mentor gewesen. Er hatte ihn immer gerettet – sogar noch als Toter. Und das
war die schlimmste Nachricht für Marcus gewesen. Er hatte sich weder an Devok
noch an sonst was erinnern können. Aber dann hatte er erfahren, dass Devok
ermordet worden war, und erlebt, dass der Schmerz das einzig menschliche Gefühl
ist, das ohne Erinnerungen auskommt: Ein Kind wird immer unter dem Verlust
eines Elternteils leiden, selbst wenn er schon vor seiner Geburt oder im
Kleinkindalter geschehen ist. Also dann, wenn es noch viel zu jung ist, um den
Tod begreifen zu können. Raffaele Altieri war das beste Beispiel dafür.
    Wir brauchen die Erinnerungen nur, um glücklich zu sein, hatte
Marcus gedacht.
    Clemente hatte viel Geduld mit ihm. Er hatte gewartet, bis er wieder
einigermaßen in Ordnung war, und ihn nach Rom zurückgebracht. In den darauf
folgenden Monaten hatte er ihm alles erzählt, was er von Marcus’ Vergangenheit
wusste. Von seiner Heimat Argentinien. Von seinen Eltern, die inzwischen tot
waren. Von dem Grund für seinen Italienaufenthalt und schließlich von seiner
Aufgabe. Clemente bezeichnete es nicht als Arbeit.
    Er hatte ihn ausgebildet, so wie Devok in den Jahren davor. Das war
gar nicht so schwer gewesen, er hatte ihn nur auf Fähigkeiten aufmerksam machen
müssen, die er schon immer besessen hatte. Marcus musste sie bloß wieder ausgraben.
    »Das ist deine Begabung«, sagte Clemente immer wieder.
    Manchmal wäre Marcus lieber anders, ganz normal, gewesen. Aber er
brauchte nur in den Spiegel zu sehen, um zu wissen, dass er das nie sein würde.
Und deshalb mied er Spiegel. Die Narbe war ein makabrer Mahnruf. Derjenige, der
versucht hatte, ihn

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