Der Seelensammler
aus dem Caravaggio-Gemälde Das Martyrium des heiligen Matthäus .«
Sandra hatte gehofft, dass ihr das irgendetwas sagen würde. Sie
hatte sich mehr davon erwartet, wollte De Michelis’ Begeisterung aber nicht
dämpfen.
»Es ist zwischen 1600 und 1601 entstanden und wurde ursprünglich als
Fresko in Auftrag gegeben. Doch dann hat sich der Künstler für eine Ausführung
in Öl auf Leinwand entschieden. Es ist Teil eines ganzen Bilderzyklus über den
heiligen Matthäus, zu dem auch Die Eingebung und Die Berufung gehören. Alle drei Gemälde befinden sich in
Rom, und zwar in der Contarelli-Kapelle in der Kirche San Luigi dei Francesi.«
Das half Sandra so nicht weiter. Sie musste mehr wissen. Also
googelte sie das Gemälde.
Es erschien auf dem Bildschirm.
Man sah, wie der heilige Matthäus ermordet wurde: Sein Schlächter
sah ihn hasserfüllt an und zückte das Schwert. Der Heilige lag schon am Boden
und versuchte, seinem Mörder mit einem Arm Einhalt zu gebieten. Den anderen Arm
hielt er ruhig neben dem Körper, so als habe er sich bereits ins Unvermeidliche
geschickt. Beide waren von weiteren Figuren umgeben, unter anderem auch von
einem entsetzten Kind.
»Das Bild weist eine Besonderheit auf«, fuhr De Michelis fort.
»Caravaggio hat sich unter die Zuschauer geschmuggelt, die dieser Szene
beiwohnen.«
Sandra erkannte das Selbstporträt des Künstlers.
Und hatte eine plötzliche Eingebung.
Dieses Gemälde zeigte ein Verbrechen.
»De Michelis, ich muss auflegen!«
»Aber wieso denn? Willst du mir denn gar nicht erzählen, wie du
vorankommst?«
»Alles läuft bestens, mach dir keine Sorgen.«
Der Ispettore murmelte irgendwas.
»Ich ruf dich morgen wieder an. Und danke noch mal: Du bist ein
wahrer Freund.«
Ohne seine Antwort abzuwarten, legte sie auf, denn nun hatte sie es
eilig; sie wusste jetzt, wonach sie suchen musste.
Bei der Dokumentation eines Tatorts wurden mehrere Dinge
fotografisch festgehalten: nicht nur der Tatort an sich, sondern auch seine
unmittelbare Umgebung und die Schaulustigen, die sich um das Absperrband der
Polizei drängten. Es konnte nämlich vorkommen, dass der Täter sich unter sie
mischte, um sich über den Stand der Ermittlungen zu informieren.
Der Spruch, dass ein Täter immer wieder an den Ort seiner Tat
zurückkehrt, war gar nicht so falsch. Diesem Trick hatte die Polizei schon
einige Verhaftungen zu verdanken.
Sandra sah sich die Fotos zu den zwanzig von David notierten
Verbrechen an und konzentrierte sich dabei vor allem auf die Schaulustigen. Sie
suchte nach jemandem, der wie Caravaggio in der Menge untertauchte.
Bei einem Prostituiertenmord hielt sie inne: Das Foto hielt den
Moment fest, in dem die Leiche aus dem EUR-Teich gehievt wurde. Die Beamten
zogen sie ans Ufer. Die knapp sitzenden, bunten Kleider der Frau standen in
einem seltsamen Kontrast zu dem Aschgrau, das der Tod bereits wie Patina über
die junge Haut gelegt hatte. Es schien beinahe, als schämte sie sich dafür, so
brutal ans Tageslicht gezerrt und den Blicken der Schaulustigen ausgeliefert zu
werden. Sandra konnte sich deren respektlose Kommentare lebhaft vorstellen: Die
hat es nicht anders verdient. Hätte sie ein anständiges Leben geführt, wäre ihr
das nicht passiert.
Dann sah sie ihn. Der Mann stand ein wenig abseits auf dem
Bürgersteig, und in seinem Blick lag keinerlei Vorwurf. Er betrachtete die
Szene ungerührt, während sich die Angestellten des Bestattungsinstituts
beeilten, die Leiche abzutransportieren.
Sandra erkannte das Gesicht sofort wieder. Es war der Mann auf dem
fünften Leica-Foto. Er war dunkel gekleidet und hatte eine Narbe an der
Schläfe.
Bist du das, du Hurensohn? Hast du meinen David in die Tiefe
gestoßen?
Sie suchte auch auf den anderen Fotos nach ihm. Tatsächlich tauchte
er noch an drei weiteren Tatorten auf. Jedes Mal befand er sich unter den
Schaulustigen, wenn auch etwas abseits.
David hatte gehofft, ihm an den Orten, an denen sich ein Verbrechen
ereignet hatte, zu begegnen. Daher das Abhören des Polizeifunks, daher die
Adressen in seinem Kalender und auf dem Stadtplan.
Warum hatte David ihm nachgespürt? Wer war dieser Mann? Wie war er
in diese grausamen Todesfälle verwickelt? Und wie in den Mord an David?
Sandra wusste jetzt, was sie tun musste: Sie musste ihn finden. Aber
wo? Vielleicht, indem sie die gleiche Methode anwandte und den Polizeifunk
abhörte, um sich dann an den Tatort zu begeben!
Plötzlich dachte sie über einen Aspekt nach, den sie
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