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Der Seelensammler

Der Seelensammler

Titel: Der Seelensammler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donato Carrisi
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anzusprechen und ihr Vertrauen zu gewinnen? Er war
überzeugend, die Mädchen hatten keine Angst vor ihm. Warum nutzte er diese Gabe
nicht, um Freunde zu gewinnen? Doch er wollte nichts als morden. Das war das
Böse in ihm, dachte Marcus. Und dieses Böse schaffte es, ihn gut wirken zu
lassen: wie jemand, dem man vertrauen kann. Doch etwas hatte Jeremiah nicht
vorhergesehen: Alles hat seinen Preis. Selbst wenn wir vollkommen zurückgezogen
leben, besteht unsere größte Angst nicht darin zu sterben, sondern darin,
allein zu sterben. Und das ist ein riesengroßer Unterschied. Aber das merken
wir erst, wenn es so weit ist und wir begreifen, dass uns niemand beweinen und
vermissen, ja, dass sich niemand an uns erinnern wird. Genau dieses Gefühl
kenne ich auch!, dachte Marcus.
    Er ließ seinen Blick dorthin schweifen, wo das Rettungsteam
wiederbelebende Maßnahmen eingeleitet hatte: sterile Handschuhe, Gaze, Spritzen
und Kanülen. Alles war noch genauso wie in jenen hektischen Momenten.
    Marcus versuchte zu begreifen, was hier passiert war, bevor Jeremiah
die Vergiftungserscheinungen bemerkt hatte. »Wer auch immer es getan hat: Er
kannte seine Angewohnheiten. Er ist genauso vorgegangen wie Jeremiah bei Lara.
Er hat sich in sein Leben und sein Haus eingeschlichen, um ihn zu beobachten.
Nur dass er kein Betäubungsmittel im Zucker versteckt, sondern Jeremiah etwas
in die Milch getan hat. Eine Art Vergeltungsaktion sozusagen.«
    Clemente beobachtete seinen Schüler, der sich gerade in denjenigen
hineinversetzte, der das alles eingefädelt hatte. »Und dann wird Jeremiah auf
einmal schlecht, und er wählt den Notruf.«
    »Die Gemelli-Klinik ist gleich in der Nähe, man kann also davon
ausgehen, dass sein Anruf dorthin weitergeleitet wird. Derjenige, der Jeremiah
das angetan hat, wusste, dass Monica, die Schwester seines ersten Opfers,
gestern Nachtdienst hatte. Bei Dringlichkeitsstufe eins musste sie den nächsten
verfügbaren Rettungswagen nehmen.« Marcus war beeindruckt von diesem
ausgeklügelten Racheplan. »Er handelt nicht spontan, sondern geht mit äußerster
Sorgfalt vor. Er hat sich den Tatort im Vorfeld genauestens angesehen.« Schritt
für Schritt hatte Marcus die Vorgeschichte und ihre unsichtbaren Fäden
enthüllt, das Geheimnis des Zaubertricks gelüftet. »Eines muss ich dir lassen:
Du warst wirklich klasse!«, sagte er an seinen unsichtbaren Gegenspieler
gewandt. »Doch jetzt wollen wir mal sehen, was du für uns bereithältst …«
    »Glaubst du, wir werden hier auf Hinweise stoßen, die uns zu Lara
führen?«
    »Nein, dafür ist er viel zu schlau. Wenn es welche gab, hat er sie
längst entfernt. Das Mädchen ist eine Belohnung, vergiss das nicht! Und die
müssen wir uns erst verdienen.«
    Marcus ging im Zimmer auf und ab. Er wusste, dass er etwas übersehen
hatte.
    »Wonach suchen wir deiner Meinung nach?«, fragte Clemente.
    »Nach etwas, das nichts mit dem Rest zu tun hat. Um unter dem Radar
der Polizei durchschlüpfen zu können, musste er einen Hinweis hinterlassen, den
nur wir wahrnehmen können.«
    Er musste nur die richtige Perspektive einnehmen, dann würde er
bestimmt auf eine Auffälligkeit stoßen.
    »Die Fensterläden!«, sagte Marcus zu Clemente, der gerade die beiden
großen Fenster schloss, die auf die Hausrückseite hinausgingen. Er schirmte den
Lichtkegel der Taschenlampe nicht länger ab, sondern ließ zu, dass er das ganze
Zimmer erhellte. Wie gehorsame Soldaten sprangen die Schatten der Gegenstände
auf, sobald sie erfasst wurden: Sofas, Anrichte, Esstisch, Sessel und der
Kamin, den ein Tulpengemälde schmückte. In diesem Moment hatte Marcus ein
Déjà-vu-Erlebnis. Er wirbelte herum und richtete die Taschenlampe erneut auf
das Blumenstillleben.
    »Das dürfte eigentlich gar nicht hier hängen.«
    Clemente verstand nicht. Doch Marcus erinnerte sich noch gut an den
Sandsteinkamin, weil er auf dem Foto war, das sie im Arbeitszimmer betrachtet
hatten: Es hatte Jeremiah und seine Mutter unter dem Ölgemälde des verstorbenen
Familienoberhaupts gezeigt.
    »Das Bild des Vaters wurde umgehängt.«
    Im Wohnzimmer war es nicht. Marcus ging auf das Tulpenstillleben zu,
hob den Rahmen an und sah, dass der Abdruck, den ein Gemälde im Lauf der Zeit
hinterlässt, ein anderer war. Er wollte es gerade wieder zurückhängen, als er
am linken unteren Rand der Leinwandrückseite die Ziffer »1« entdeckte.
    »Ich habe es gefunden!«, rief Clemente aus dem Flur.
    Marcus ging zu ihm und sah das Bild von

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