Der Seelensammler
Händen. An
Weihnachten, ganz in Rot gekleidet und vor dem geschmückten Baum posierend.
Wie erstarrt warteten sie darauf, dass der Selbstauslöser seine
Pflicht tat, und bildeten ein perfektes Dreigespann. Sie sahen aus wie Geister
aus einer anderen Zeit.
Von einem bestimmten Moment an fehlte einer der Protagonisten: Der
halbwüchsige Jeremiah und seine Mutter lächelten nun traurig und gezwungen. Das
Familienoberhaupt war nach kurzer Krankheit verstorben, und sie führten die
alte Tradition fort. Aber nicht, um Erinnerungen zu schaffen, sondern als eine
Art Gegengift, das den Schatten des Todes vertreiben soll.
Vor allem ein Foto fiel Marcus ins Auge, und zwar wegen der etwas
makabren Entscheidung, sich mit dem Verstorbenen fotografieren zu lassen:
Mutter und Sohn standen neben einem großen Sandsteinkamin, an dem ein Ölporträt
vom streng dreinschauenden Vater hing.
»Die Polizei hat nichts gefunden, was Jeremiah mit Lara in
Verbindung bringt«, sagte Clemente hinter ihm.
Die Spuren, die die polizeiliche Durchsuchung hinterlassen hatte,
waren überall zu sehen: Gegenstände waren verrückt, Möbel auseinandergenommen
worden.
»Deshalb wissen sie immer noch nicht, dass er sie entführt hat. Sie
suchen gar nicht nach ihr.«
»Hör auf damit!«, sagte Clemente plötzlich barsch.
Marcus wunderte sich, weil das so gar nicht seine Art war.
»Ich kann einfach nicht fassen, dass du das immer noch nicht
kapierst: Du bist kein Hobbypolizist, das hätten sie nicht zugelassen. Du
wurdest so gut wie möglich auf deine Aufgabe vorbereitet. Und willst du die
Wahrheit wissen? Schon möglich, dass das Mädchen am Ende stirbt. Ich würde
sogar sagen, dass das ziemlich wahrscheinlich ist. Aber das hängt nicht von dem
ab, was wir tun oder unterlassen. Hör also endlich auf, dich schuldig zu
fühlen!«
Marcus konzentrierte sich erneut auf das Foto, auf dem Jeremiah
unter dem Porträt des Vaters posierte. Er war ungefähr zwanzig und machte einen
sehr ernsten, zerknirschten Eindruck.
»Also, womit willst du anfangen?«, fragte Clemente.
»Mit dem Zimmer, in dem der Sterbende gefunden wurde.«
Auch dem Wohnzimmer war anzusehen, dass die Spurensicherung
dort gewesen war: mehrere Stative mit Halogenlampen, die den Fundort
beleuchteten. Rückstände von Reagenzien zum Sichtbarmachen von
Körperflüssigkeiten und Fingerabdrücken. Bezifferte Kärtchen, die anzeigten, wo
sich das Beweismaterial befunden hatte, das fotografiert und anschließend
mitgenommen worden war.
Im Wohnzimmer waren ein blaues Haarband, ein Korallenarmband, ein
rosa Strickschal und ein roter Rollschuh gefunden worden, die jeweils den vier
Opfern von Jeremiah Smith gehört hatten. Diese Fetischgegenstände waren der
unwiderlegbare Beweis dafür, dass er etwas mit den Morden zu tun hatte. Es war
riskant gewesen, sie aufzubewahren. Aber Marcus konnte sich vorstellen, wie
sich der Mörder gefühlt hatte, wenn er seine Trophäen liebkoste. Sie standen
für das, was er am besten konnte, nämlich töten. Wenn er sie in Händen hielt
und ihre dunkle Energie spürte, durchzuckte ihn eine belebende Kraft, so als
besäße der gewaltsame Tod die Macht, denjenigen zu stärken, der ihn sät. Ein
wohliger Schauer, hervorgerufen von heimlichen Wonnen.
Die Fetischgegenstände hatten sich im Wohnzimmer befunden, weil
Jeremiah sie um sich haben wollte – fast so, als wären es die Mädchen selbst:
gequälte Seelen, Gefangene dieses Hauses, genau wie er.
Doch etwas fehlte, nämlich ein Gegenstand, der Lara gehörte.
Marcus betrat das Wohnzimmer, während Clemente auf der Schwelle
stehen blieb. Sämtliche Möbel bis auf den Sessel in der Zimmermitte gegenüber
einem alten Fernseher waren mit weißen Tüchern verhängt. Ein Tisch war umgefallen,
und auf dem Boden sah man eine zerbrochene Schale, einen hellen, inzwischen
getrockneten Fleck und zerkrümelte Kekse.
Jeremiah musste den Tisch mitgerissen haben, als ihm schlecht
geworden war. Er saß abends vor dem Fernseher und aß Milch und Kekse – ein
Bild, das seine Einsamkeit widerspiegelte. Das Monster versteckte sich nicht.
Sein bester Schutz war die Gleichgültigkeit seiner Mitmenschen. Hätten sie nur
ein bisschen genauer hingeschaut, wäre er vielleicht deutlich früher gefasst
worden.
»Jeremiah Smith war asozial, konnte sich jedoch auch anders geben,
um seine Opfer zu ködern.« Bis auf Lara hat er alle Mädchen
tagsüber entführt, rief Marcus sich wieder in Erinnerung. Welche Methode
benutzte er, um sie
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