Der Seelensammler
wurde sie
porös, und es entstand ein gefährlicher Tunnel, den bestimmte Menschen nach
Belieben passierten. Unter Umständen wirkten sie völlig normal, doch es genügte
ein Schritt auf die andere Seite, und sie verwandelten sich in ein ebenso unverdächtiges
wie mörderisches Etwas.
Den Psychiatern zufolge gehörte Nicola Costa zu dieser noch wenig
erforschten Kategorie.
Marcus bereitete den Altar vor, wobei er den leeren Kirchenbänken
den Rücken zukehrte. Am Klirren der Handschellen hörte er, dass der Häftling
kam. Costa wurde von Wärtern in die Kirche begleitet und bewegte sich seltsam
unbeholfen fort. Er trug Jeans und ein weißes, bis oben hin zugeknöpftes Hemd.
Er war glatt rasiert und bis auf wenige Haarsträhnen, die vereinzelt aus seinem
Schädel sprossen, kahl, was ihm ein bizarres Aussehen verlieh. Doch das Auffälligste
an ihm war eine Lippen-Kiefer-Gaumenspalte, die seinen Mund zu einem schiefen
Dauerlächeln verzerrte.
Der Häftling schleppte sich zu einer der Bänke. Die Beamten halfen
ihm, sich zu setzen, indem sie ihn stützten. Dann bezogen sie draußen vor der
Tür Stellung. Dort würden sie ihren Wachdienst versehen, ohne zu stören.
Marcus wartete noch einen Moment, dann drehte er sich um. Dem Mann
stand die Überraschung ins Gesicht geschrieben.
»Wo ist der Kaplan?«, fragte er verwirrt.
»Er fühlt sich nicht wohl.«
Costa nickte und schwieg. Er hielt einen Rosenkranz in den Händen
und betete eine unverständliche Litanei herunter. In regelmäßigen Abständen zog
er ein Taschentuch aus seiner Hemdtasche, um sich den Speichel abzuwischen, der
von seiner gespaltenen Lippe tropfte.
»Möchtest du vor der Messe beichten?«
»Mit dem anderen Priester habe ich eine Art spirituellen Weg
beschritten. Ich habe ihm von meinen Ängsten und Zweifeln erzählt, und er hat
mit Bibelzitaten darauf geantwortet. Vielleicht sollte ich lieber damit warten,
bis er wieder da ist.«
Er ist lammfromm!, dachte Marcus. Oder aber er spielt seine Rolle
ausgezeichnet.
»Entschuldige, aber ich dachte, es würde dir gefallen«, sagte er und
kehrte ihm erneut den Rücken zu.
»Was?«, fragte Costa verwirrt.
»Deine Sünden zu beichten.«
Der Satz machte ihn misstrauisch. »Was soll das? Ich verstehe
nicht.«
»Nichts, beruhige dich!«
Costa ließ sich beschwichtigen und betete weiter. Marcus hängte sich
die Stola um, um mit der Zeremonie zu beginnen.
»Ich kann mir vorstellen, dass einer wie du kein Mitleid mit seinen
Opfern hat. Bei dieser Missbildung wäre das in der Tat grotesk.«
Diese Worte trafen Costa wie ein Schlag ins Gesicht, aber er wusste
sich zu wehren. »Ich dachte eigentlich, Priester sind mitfühlend.«
Marcus näherte sich dem Mann bis auf wenige Zentimeter. »Ich weiß ganz
genau, was los ist!«, flüsterte er.
Costas Gesicht verwandelte sich in eine wächserne Maske. Sein
falsches Lächeln passte so gar nicht zu seinem eiskalten Blick. »Ich habe meine
Taten gebeichtet und bin bereit, dafür zu büßen. Dafür erwarte ich keine Dankbarkeit,
denn ich weiß, dass ich etwas Böses getan habe. Aber ein bisschen Respekt habe
auch ich verdient.«
»Du hast die Überfalle und den Mord an Giorgia Noni in allen
Einzelheiten gestanden«, bemerkte Marcus bewusst zynisch und ließ erkennen,
dass er dem keinen großen Glauben schenkte. »Aber keines der Überfallopfer
konnte dich auch nur annähernd beschreiben.«
»Ich habe eine Sturmhaube getragen«, sagte Costa, der sich gezwungen
sah, seine Schuld zu bekräftigen. »Außerdem hat mich Giorgias Bruder identifiziert.«
»Er hat nur deine Stimme wiedererkannt«, widersprach ihm Marcus
prompt.
»Er hat ausgesagt, dass der Täter einen Sprachfehler hatte.«
»Der Junge stand unter Schock.«
»Nein, das stimmt nicht, das liegt an meiner …« Costa beendete den
Satz nicht.
Doch Marcus war gnadenlos: »An deiner was? An deiner Hasenscharte?«
»Ja«, sagte der Mann widerwillig. Es gefiel ihm ganz und gar nicht,
dass sich jemand so abfällig über seine Behinderung äußerte.
»Es ist doch immer das Gleiche, stimmt’s Nicola? Seit du klein
warst, hat sich nicht das Geringste geändert. Wie haben dich deine Schulfreunde
genannt? Sie hatten einen Spitznamen für dich, nicht wahr?«
Costa rutschte auf der Bank hin und her und stieß so etwas wie ein
Lachen aus. »Hasengesicht!«, erwiderte er amüsiert. »Aber das war nicht weiter
schlimm und auch nicht gerade originell.«
»Da hast du recht. ›Figaro‹ wäre besser gewesen«,
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