Der Seelensammler
eine
Aufforderung, in die Basilika Santa Maria sopra Minerva zu gehen. Vielleicht
würde sie dort etwas vorfinden, das ihr weiterhalf. Vielleicht war es nur
deshalb mit Fred signiert worden, um ihr mitzuteilen,
dass der Absender David kannte. Würde er ihr wirklich etwas antun wollen, würde
er sie eher aus dem Hinterhalt angreifen und ihr vorher nicht noch eine
Botschaft zukommen lassen.
Sandra wusste, dass das alles nur Vermutungen waren, die neue Fragen
aufwarfen. Sie begriff, dass sie an einem Scheideweg stand: Sie konnte den
nächsten Zug nach Mailand nehmen und versuchen, die ganze Sache zu vergessen.
Oder sie konnte weitermachen, koste es, was es wolle.
Sie beschloss, weiterzumachen. Aber zuerst musste sie herausfinden,
was sie in der Kapelle des heiligen Raimund von Peñafort erwartete.
Die Basilika Santa Maria sopra Minerva lag nur wenige
Schritte vom Pantheon entfernt. Sie war 1280 über einem antiken Tempel zu Ehren
der Minerva Chalcidica erbaut worden.
Sandras Taxi hielt direkt auf dem Vorplatz. In seiner Mitte stand
ein ägyptischer Obelisk, den Bernini auf den Schultern eines kleinen Elefanten
platziert hatte. Einer Legende nach hatte der Architekt der Päpste gewollt,
dass das Tier dem Dominikanerkloster sein Hinterteil entgegenreckte. Damit
hatte sich Bernini über die Dummheit der Mönche lustig gemacht.
Sandra trug Jeans und ein graues Sweatshirt mit Kapuze. Die konnte
sie aufsetzen, wenn es regnete. Das Gewitter der letzten Nacht war nur noch
eine ferne Erinnerung. Wärmere Luft hatte die Straßen getrocknet. Der
Taxifahrer, der sie hergebracht hatte, hatte geglaubt, sich für das anhaltend
schlechte Wetter entschuldigen zu müssen, und ihr versichert, dass in Rom
normalerweise immer die Sonne scheine. Doch schon wieder breiteten sich dunkle
Wolken wie Wundbrand am goldroten Himmel aus.
Sandra trat durch das Portal in der romanischen Fassade mit
Renaissanceelementen und sah, dass das Kircheninnere bis auf ein paar
missglückte barocke Eingriffe überraschend gotisch-mittelalterlich geblieben
war. Sie blieb einen Moment stehen, um das blaue, mit Aposteln, Propheten und
Kirchengelehrten freskierte Gewölbe zu bewundern.
Die Basilika hatte ihre Pforten gerade geöffnet. Laut dem Aushang im
Eingangsbereich wurde die erste Messe erst um zehn gefeiert. Bis auf eine
Nonne, die Blumen auf dem Hauptaltar arrangierte, war Sandra die einzige
Besucherin. Aus irgendeinem Grund tröstete sie die Anwesenheit der Gottesfrau.
Mit dem Heiligenbildchen des Raimund von Peñafort in der Hand machte
sie sich auf die Suche nach dem Gemälde. Sie lief die um das Hauptschiff
angeordneten Seitenkapellen ab. Davon gab es mindestens zwanzig. Sie alle waren
in leuchtendem geädertem Jaspisrot gehalten und prunkvoll mit Marmor geschmückt.
Der fiel stellenweise so leicht wie drapierter Stoff und bildete weiche Kurven
aus Stein, aber auch Heiligenfiguren mit einer glatten, leuchtenden Haut wie
aus Elfenbein.
Die Kapelle, nach der sie suchte, war die letzte ganz hinten rechts
und gleichzeitig auch die unscheinbarste.
Der schmucklose Raum befand sich in einer dunklen Ecke und war
höchstens fünfzehn Quadratmeter groß. Hier waren die nackten Wände nicht mit
kostbarem Marmor vertäfelt worden, sondern rußgeschwärzt. Nur ein paar
Grabmäler waren zu sehen.
Sandra griff zu ihrem Handy, um sie damit zu fotografieren – ganz
so, als wäre sie zur Spurensicherung gekommen. Vom Allgemeinen
zum Besonderen. Sie machte Schnappschüsse, arbeitete sich von unten nach
oben vor. Besondere Aufmerksamkeit widmete sie den Kunstwerken in der Kapelle.
Der heilige Raimund von Peñafort trug ein Dominikanergewand und war
neben dem heiligen Paulus zu sehen, und zwar auf einem Bild über dem
Hauptaltar. Links davon hing ein Ölgemälde, das die heilige Luzia mit der
heiligen Agatha zeigte. Aber Sandra war vor allem von den Fresken rechts von
der Kapelle beeindruckt.
Christus der Weltenrichter zwischen zwei Engeln.
Darunter drängten sich die Votivkerzen. Kleine Flammen tanzten im
leisen Luftzug und tauchten den winzigen Raum in einen rötlichen Schein.
Sandra fotografierte die Kunstwerke und hoffte, dass sie ihr die
versprochene Antwort liefern würden – genau wie das Gemälde Das
Märtyrium des heiligen Matthäus in der Kirche San Luigi dei Francesi.
Sie war sich sicher, dass ihr der Blick durch das Kameraobjektiv weiterhelfen
würde. Doch es gelang ihr nicht, das Rätsel zu lösen, und das schon zum zweiten
Mal an diesem
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