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Der Seelensammler

Der Seelensammler

Titel: Der Seelensammler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donato Carrisi
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Augen waren offen, aber sie spürte, dass
sie bereits das Bewusstsein verloren hatte: ein merkwürdiges Gefühl, so als
wäre sie gleichzeitig an- und abwesend. Siebzehn – zwei Hände packten ihre
Schultern.
    Dann hörte sie auf zu zählen, und alles um sie herum wurde schwarz.

9 Uhr
    Das Gefängnis Regina Coeli war ursprünglich ein Kloster gewesen.
Das Gebäude stammte aus der zweiten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts, 1881
wurde es in eine Haftanstalt umgewandelt. Heute erinnerte nur noch sein Name an
den einstigen Verwendungszweck: Königin des Himmels.
    Das Gefängnis bot Platz für etwa neunhundert Häftlinge, die,
abhängig von ihren Vergehen, in verschiedenen Abteilungen einsaßen. In der Abteilung
acht befanden sich die sogenannten »Borderliner« – Menschen, die jahrelang
völlig normal gelebt, gearbeitet, Beziehungen gepflegt, manchmal sogar eine
Familie gegründet hatten, um dann plötzlich grundlos ein grausames Verbrechen
zu begehen. Das weckte Zweifel an ihrer geistigen Gesundheit, doch ansonsten
wies nichts auf eine Geisteskrankheit hin, ihre Anormalität zeigte sich erst in
ihrem kriminellen Verhalten. Das einzig Krankhafte an ihnen war das Verbrechen.
Während sie im Gefängnis darauf warteten, dass man sie für unzurechnungsfähig
erklärte, genossen sie eine andere Behandlung als die übrigen Häftlinge.
    Seit über einem Jahr war Nicola Costa alias Figaro nun in der
Abteilung acht zu Hause.
    Nachdem Marcus die üblichen Kontrollen hinter sich gebracht hatte,
passierte er das Eingangstor und lief dann durch einen endlosen Gang, der durch
mehrere Gittertore unterbrochen wurde. Er führte immer weiter in die
Strafanstalt hinein und gab dem Besucher das Gefühl, tiefer und tiefer in die
Hölle hinabzusteigen.
    Zu diesem Anlass trug Marcus einen Talar. Er war den weißen, ihn
einschnürenden Kragen genauso wenig gewohnt wie das weit schwingende
Ordensgewand. Da er nie Priesteruniform getragen hatte, kam er sich vor wie
verkleidet.
    Als er vor wenigen Stunden erfahren hatte, dass der Serientäter wohl
verwahrt hinter Gittern saß, hatte er zusammen mit Clemente überlegt, wie er
ihn treffen konnte. Nicola Costa wartete darauf, dass ein Richter entschied, ob
er seine Haftstrafe weiterhin im Gefängnis oder in der Psychiatrie würde absitzen
müssen. Bis es so weit war, hatte er sich für den Weg der Reue und Bekehrung
entschieden. Jeden Morgen ließ er sich von Wärtern in die Gefängniskirche begleiten.
Er ging zur Beichte und wohnte schweigend der Messe bei. Doch an diesem Tag war
der Kaplan aus nicht näher genannten Gründen von der Kurie abberufen worden. Er
würde eine Weile brauchen, bis er merkte, dass das ein Irrtum war. Clemente war
es gelungen, das alles zu organisieren. Er hatte Marcus auch die Erlaubnis
verschafft, den Kaplan vorübergehend zu vertreten. Damit hatte er ungehinderten
Zugang zum Regina Coeli.
    Das war natürlich nicht ganz ohne Risiko, was seine Anonymität
anging, aber vielleicht erzählte die Zeichnung von Jeremiah Smiths Dachboden ja
eine ganz andere Geschichte: Möglicherweise war der Fall Figaro gar nicht
wirklich abgeschlossen. Marcus’ Aufgabe bestand nun darin, genau das herauszufinden.
    Nachdem er das lange steinerne Labyrinth hinter sich gelassen hatte,
gelangte er in einen achteckigen Saal, der sich nach oben öffnete, sodass man
alle drei Stockwerke und ihre jeweiligen Zellen sehen konnte. Die Gänge davor
waren durch Metallgitter gesichert, damit sich keiner der Häftlinge hinunterstürzen
und Selbstmord begehen konnte.
    Ein Wärter begleitete Marcus zu der kleinen Kirche und ließ ihn dann
allein, damit er sich auf die Messe vorbereiten konnte. Eine seiner
priesterlichen Pflichten bestand in der Eucharistiefeier: Als Priester ist man
angehalten, täglich die Messe zu lesen. Aufgrund seines Aufgabenbereichs war
Marcus jedoch davon entbunden worden. Nach der Sache in Prag hatte er unter
Clementes Anleitung einige Messen gefeiert, um sich wieder mit der Zeremonie
vertraut zu machen. Deshalb war er gewappnet.
    Allerdings hatte er nicht viel Zeit gehabt, sich intensiver mit dem
Mann zu beschäftigen, den er gleich treffen würde, und schon gar nicht mit
dessen psychischer Verfassung. Doch die Bezeichnung »Borderline« beschrieb
eindrucksvoll, wie hauchdünn die Grenze zum Bösen sein konnte. Manchmal war sie
elastisch, erlaubte kurze Ausflüge in das Reich der Finsternis, wobei man stets
die Möglichkeit hatte, wieder zurückzukehren. In anderen Fällen

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