Der Seelensammler
provozierte ihn
Marcus.
Der Gefangene war gereizt und wischte sich erneut mit dem
Taschentuch über den Mund. »Was willst du von mir?«
»Ich werde dir für deine angeblichen Verbrechen nicht die Absolution
erteilen, Costa.«
»Ich möchte jetzt gehen.« Der Mann drehte sich um, um die Wärter zu
rufen.
Aber Marcus näherte sich ihm erneut, legte ihm eine Hand auf die
Schulter und sah ihm direkt in die Augen: »Wenn man ständig als Monster
wahrgenommen wird, gewöhnt man sich irgendwann daran. Und merkt, dass es eine
Art Auszeichnung ist: Man ist kein Niemand mehr. Dein Gesicht ist in allen
Zeitungen. Wenn du im Gerichtssaal Platz nimmst, starren dich alle an.
Niemandem zu gefallen, ist eine Sache, anderen Angst einzujagen eine ganz
andere. Du warst die Gleichgültigkeit und Verachtung deiner Mitmenschen
gewöhnt, doch jetzt sind sie gezwungen, dich anzusehen. Sie wenden sich nicht
mehr ab, weil sie ihrem schlimmsten Albtraum ins Gesicht sehen wollen: Und der
bist nicht du, sondern die Angst, genauso zu sein wie du. Doch je länger sie
dich anstarren, desto mehr können sie sich von dir abgrenzen. Du bist eine Art
Alibi für sie, mit deiner Hilfe können sie sich als etwas Besseres fühlen. Denn
genau dafür sind Monster letztlich da.«
Marcus holte die Zeichnung vom Dachboden unter seinem Talar hervor.
Er lehnte sie an die Kirchenbank, damit Nicola Costa sie anschauen konnte: die
lächelnden Kinder inmitten einer aufblühenden Natur. Das Mädchen mit dem blutbefleckten
Kleid und der Junge mit der Schere in der Hand.
»Wer hat das gezeichnet?«, fragte der Häftling.
»Der echte Figaro.«
»Ich bin der einzige, der echte Figaro.«
»Nein, du bist nur ein Trittbrettfahrer. Du hast die Tat bloß
gestanden, um deinem langweiligen Leben einen Sinn zu geben. Du warst gut, hast
dir jedes Detail perfekt eingeprägt. Auch das mit deiner Bekehrung war eine
gute Idee, das macht dich noch glaubwürdiger. Mal ganz abgesehen davon, dass
die Polizei den Fall auch gern abschließen will, bevor er ihr zu heiß wird:
drei überfallene Frauen, ein Mord und kein Schuldiger!«
»Und wie erklärst du dir dann, dass es seit meiner Verhaftung keine
weiteren Opfer gegeben hat?«, fragte Costa triumphierend.
Doch auch auf diesen Einwand war Marcus vorbereitet. »Seit dem Mord
ist gerade mal ein Jahr vergangen. Es ist also nur eine Frage der Zeit, bis er
wieder zuschlagen wird. Im Moment passt es ihm ausgezeichnet, dass du hier
einsitzt. Ich kann mir sogar vorstellen, dass er überlegt, aufzuhören, aber er
wird sich nicht mehr lange beherrschen können.«
Nicola Costa zog die Nase hoch, während sein Blick nervös durch die
Kirche huschte. »Ich weiß nicht, wer du bist, Priester. Und ich weiß auch
nicht, warum du ausgerechnet jetzt auftauchst. Aber niemand wird dir glauben.«
»Gib’s zu: Du hast doch gar nicht den Mut, ein echtes Monster zu
sein! Du ruhst dich nur auf fremden Lorbeeren aus.«
Costa stand kurz davor, die Beherrschung zu verlieren. »Wer sagt
das? Warum kann ich nicht der Junge auf dieser Zeichnung sein?«
Marcus trat ganz nah an ihn heran: »Sieh dir sein Lächeln an, dann
weißt du Bescheid.«
Nicola Costa betrachtete die Zeichnung aus dem Schulheft und sah,
dass das Gesicht des Jungen nicht im Geringsten entstellt war. »Das beweist gar
nichts!«, flüsterte er matt.
»Ich weiß«, erwiderte Marcus. »Aber für mich ist es Beweis genug.«
10 Uhr 04
Ein stechender Schmerz im rechten Wangenknochen ließ
Sandra wieder zu sich kommen. Langsam öffnete sie die Augen. Sie war dermaßen
verängstigt, dass sie kaum etwas erkennen konnte. Sie lag auf einem Bett, auf
einer weichen roten Steppdecke. Um sie herum standen ganz normale IKEA-Möbel,
und sie sah ein Fenster mit dunklen Rollos. Es musste noch Tag sein, denn es
drang etwas Licht hindurch.
Zu ihrem Erstaunen war sie nicht gefesselt. Sie trug nach wie vor
ihre Jeans und ihr Sweatshirt, aber jemand hatte ihr die Turnschuhe ausgezogen.
Sie blickte auf die Tür, sie war nur angelehnt. Eine nette Geste,
die sie ein wenig beruhigte.
Als Erstes tastete sie nach ihrer Pistole, doch das Halfter war
leer.
Sie versuchte, sich aufzusetzen, merkte aber, dass ihr schwindelig
wurde. Also ließ sie sich zurücksinken und starrte an die Decke, bis sich vor
ihren Augen nicht mehr alles drehte.
Ich muss hier weg!
Sie streckte die Beine aus dem Bett, berührte erst mit einem und
dann mit beiden Füßen den Boden. Anschließend versuchte sie erneut,
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