Der Seelensammler
Vormittag. Bei der mysteriösen, von der Hotelzentrale
gespeicherten Handynummer war sie auch nicht weitergekommen, weil die letzten
drei Ziffern fehlten. Es war frustrierend, der Wahrheit so nahe zu sein, ohne
den Schleier lüften zu können.
Gab es denn wirklich nichts auf Davids Fotos, das auf diesen Ort
verwies?
Sie dachte an die beiden Fotos, denen sie noch nichts hatte
entlocken können. Das dunkle ließ sie erst einmal außen vor und konzentrierte
sich stattdessen auf das andere: David mit nacktem Oberkörper vor dem
Hotelzimmerspiegel. Mit einer Hand fotografierte er sich, mit der anderen
grüßte er. Seine Miene war ernst.
Während sie darüber nachdachte, hörte sie auf zu fotografieren, und
ihr Blick fiel auf das, was sie in Händen hielt. Weder das Handy noch die Fotos
hatten bisher irgendwas ergeben. Fotos und Handy. »Nein!«, rief sie, als hätte
sie soeben eine besonders alberne Eingebung gehabt. »Das kann einfach nicht
sein.« Die Lösung lag direkt vor ihrer Nase, und sie hatte sie einfach nicht
gesehen. Sie suchte in ihrer Handtasche nach dem Ausdruck mit der
Telefonnummer, den sie vom Hotel bekommen hatte.
0039 328 39 56 7 XXX
David hatte die Hand nicht zum Gruß erhoben! Er hatte sie
nur gehoben, um eine Zahl anzugeben – nämlich die, die bei der Telefonnummer
fehlte. Sandra gab die Nummer in ihr Handy ein, wobei sie die drei X, die die
letzten Ziffern verschlüsselten, durch »555« ersetzte.
Sie wartete.
Draußen war es erneut bewölkt. Finsternis drang durch die Fenster
der Basilika, glitt das Kirchenschiff entlang und füllte jeden Winkel, jede
Nische.
Sie hörte, wie es am anderen Ende der Leitung läutete.
Kurz darauf hallte ein Handy in der Kirche wider.
Das konnte kein Zufall sein! Er war hier. Er beobachtete sie.
Nach dreimaligem Läuten verstummte das Signal, und die Verbindung
wurde unterbrochen. Sandra wandte sich zum Hauptaltar, um nachzusehen, ob die
Nonne noch da war. Doch sie war verschwunden. Also schaute sie sich suchend um
und rechnete damit, dass jeden Moment jemand vor ihr auftauchte.
Nichts geschah. Dass sie in Gefahr war, begriff sie erst, als sie
ein Pfeifen über sich wahrnahm und hörte, wie etwas in die Wand einschlug.
Jemand hatte auf sie geschossen! Sandra ging in Deckung und griff nach ihrer
Dienstpistole. Alle ihre Sinne waren geschärft, trotzdem schlug ihr Herz wie
verrückt. Eine zweite Kugel verfehlte sie nur um wenige Meter. Sie konnte die
Position des Schützen nicht genau bestimmen, wusste aber, dass er sie von dort,
wo er stand, nicht treffen konnte. Doch weil er für sie unsichtbar war, konnte
er seine Position unbemerkt ändern und sie besser ins Visier nehmen.
Sie musste hier weg!
Mit vorgehaltener Waffe wirbelte sie herum – genau so, wie sie es
auf der Polizeischule gelernt hatte. Dabei ließ sie ihre Umgebung nicht aus den
Augen. Wenige Meter von ihr entfernt gab es einen Ausgang, die Pfeiler des
Kirchenschiffs würden ihr die nötige Deckung geben.
Es war ein Fehler gewesen, dem Heiligenbildchen zu folgen. Wie hatte
sie nur so leichtsinnig sein können! Sie wusste doch, dass Davids Mörder noch
frei herumlief.
Sie gab sich zehn Sekunden Zeit, um zum Ausgang zu gelangen. Leise
begann sie zu zählen und machte einen Satz nach vorn.
Eins – kein Schuss. Zwei – sie hatte bereits einige Meter Vorsprung.
Drei – das schwache Licht, das durchs Fenster fiel, erfasste sie kurz. Vier –
sie befand sich wieder im Schutz der Dunkelheit. Fünf – es fehlten nur noch
wenige Schritte, vielleicht konnte sie es sogar schneller schaffen. Sechs und
sieben – sie spürte, wie sie jemand an der Schulter packte. Jemand, der aus
einer der Kapellen gekommen war, zog sie zu sich heran. Acht, neun, zehn –
damit hatte sie nicht gerechnet, sie war vollkommen wehrlos. Elf, zwölf,
dreizehn – sie zappelte und strampelte, versuchte sich aus der Umklammerung zu
befreien. Vierzehn – es gelang ihr, aber nur mühsam. Die Pistole fiel ihr aus
der Hand, und bei dem verzweifelten Versuch, sie aufzufangen, rutschte sie aus.
Fünfzehn – sie sah, wie der Marmorboden auf sie zukam, spürte den Schmerz
schon, bevor er einsetzte. Sie versuchte, den Sturz mit den Händen abzufangen –
leider vergeblich. Sie konnte nur noch den Kopf drehen, damit sie nicht frontal
aufprallte. Ihr Wangenknochen schlug auf dem kalten Boden auf und wurde gleich
darauf glühend heiß. Ein stechender Schmerz durchzuckte sie wie ein
elektrischer Schlag. Sechzehn – ihre
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