Der Seelensammler
sich
aufzurichten. Sie musste die Augen offen halten, um nicht das Gleichgewicht zu
verlieren. Schließlich gelang es ihr, sich zu erheben. Sie stützte sich mit
beiden Händen an der Wand ab und hielt sich anschließend an einer Kommode fest.
Sie stand, aber nicht sehr lange. Sie spürte, wie ihre Knie nachgaben.
Vergeblich versuchte sie, dagegen anzukämpfen. Sie schloss die Augen und wäre
fast gestürzt, als jemand sie von hinten packte und wieder aufs Bett legte.
»Noch nicht!«, sagte der Mann.
Sandra klammerte sich an seine starken Arme. Derjenige, dem sie
gehörten, roch angenehm. Sie fand sich auf dem Bauch wieder, den Kopf ins
Kissen vergraben. »Lass mich los!«, murmelte sie.
»Du bist noch nicht so weit. Wann hast du das letzte Mal etwas
gegessen?«
Sandra drehte sich um. Ihre Augen waren nur noch zwei schmale
Schlitze, trotzdem konnte sie einen Blick auf den Mann im Halbdunkel erhaschen:
kinnlanges, aschblondes Haar, feine und doch maskuline Züge. Sie war sich
sicher, dass er grüne Augen hatte, da sie glühten wie die einer Katze. Sie
wollte schon fragen, ob er ein Engel sei, wäre da nicht diese unangenehme
Jungenstimme mit dem deutschen Akzent gewesen.
»Schalber!«, sagte sie enttäuscht, während er sie seelenruhig
angrinste.
»Tut mir leid, aber ich habe es nicht geschafft, dich aufzufangen,
bevor du gestürzt bist.«
»Du warst das also in der Kirche!«
»Ich habe versucht, dir das begreiflich zu machen, aber du hast wie
wild um dich geschlagen.«
»Ich habe um mich geschlagen?« Vor lauter Empörung vergaß sie ihre
Gehirnerschütterung.
»Wenn ich nicht eingeschritten wäre, hätte dich der Schütze
erwischt: Du wärst ihm fast vor die Mündung gelaufen und hättest ein ideales
Ziel abgegeben.«
»Und wer war das?«
»Ich habe nicht die leiseste Ahnung. Zum Glück bin ich dir gefolgt.«
Jetzt war sie wirklich sauer. »Du bist was? Seit wann denn?«
»Ich bin gestern Abend angekommen. Heute Morgen bin ich sofort zu
dem Hotel gegangen, in dem David gewohnt hat, weil ich mir gedacht habe, dass
ich dich dort finde. Ich habe gesehen, wie du herauskamst und ein Taxi genommen
hast.«
»Und unsere Verabredung in dem Mailänder Café …«
»… war nur ein Bluff: Ich wusste, dass du in Rom bist.«
»Deshalb die ständigen Telefonate, die Aufforderung, Davids Seesäcke
zu überprüfen … Und ich bin dir auf den Leim gegangen.«
Schalber setzte sich zu ihr aufs Bett und seufzte. »Ich hatte keine
andere Wahl.«
Sandra war nun klar, dass sie von dem Interpolbeamten benutzt worden
war. »Was steckt dahinter?«
»Bevor ich dir das erkläre, muss ich dir ein paar Fragen stellen.«
»Nein, du sagst mir zuerst, was hier läuft!«
»Ich verspreche dir, dass ich dir alles erzählen werde. Aber erst
muss ich wissen, ob wir noch in Gefahr sind.«
Sandra sah sich um und entdeckte etwas, das wie ein BH aussah –
ihrer war es jedoch nicht. Er lag über der Armlehne eines Sessels. »Moment mal,
wo bin ich hier? Was ist das für eine Wohnung?«
Schalber fing ihren Blick auf und räumte das Wäschestück weg.
»Entschuldige die Unordnung! Die Wohnung gehört Interpol, wir benutzen sie als
Gästehaus. Hier herrscht ein ständiges Kommen und Gehen. Aber keine Sorge, wir
sind in Sicherheit.«
»Wie sind wir hergekommen?«
»Ich musste ein paar Schüsse abgeben, doch ich bezweifle, dass ich
den Scharfschützen erwischt habe. Trotzdem sind wir heil aus der Basilika
herausgekommen. Es war ganz schön anstrengend, dich zu tragen! Zum Glück hat es
geregnet, sodass ich dich unbemerkt ins Auto setzen konnte. Ich hätte das nur
ungern einem zufällig vorbeikommenden Polizisten oder V-Mann erklärt.«
»Ach, und das war deine einzige Sorge?« Sandra dachte nach. »Moment
mal, warum sollten wir immer noch in Gefahr sein?«
»Weil derjenige, der dich töten wollte, es bestimmt wieder versuchen
wird.«
»Jemand hat mir ein Heiligenbildchen mit einer Botschaft unter der
Zimmertür in meinem Hotel durchgeschoben. Was ist so interessant an der Kapelle
des heiligen Raimund von Peñafort?«
»Gar nichts, das war bloß eine Falle.«
»Und woher willst du das wissen?«
»Weil dich David sonst auch darauf hingewiesen hätte.«
Diese Bemerkung machte jeden Widerstand zunichte. Sandra war
überrascht. »Du weißt also von Davids Recherchen?«
»Ich weiß so einiges, aber eins nach dem anderen.«
Schalber stand auf und begab sich ins Nebenzimmer, wo er sich, wie
Sandra hörte, am Herd zu schaffen machte.
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